
Freche Stare, die sich an snackende Caféhausgäste heranpirschen, gibt es nicht nur an der Strandpromenade von Edinburghs Vorort Portobello, sondern auch in Berlin, und zwar überall da, wo an Kiosken geknuspert wird.
Als ich irgendwann dieses Jahr erfahren habe, dass es im November ein Treffen mit Workshops in Berlin geben würde, das den spaßigen Titel „NähNerd-Klassenfahrt“ tragen sollte, stand für mich fest, dass ich mir dieses Ereignis auf keinen Fall entgehen lassen wollte: Übernachtung in einer Gründerzeitvilla im Landhausviertel, Workshops zum Thema Alabama Chanin, Oberteilanpassung o.ä., und dann noch Museums- und Maybachufermarktbesuch, orientalisch Essen gehen…

Schließlich ist es nun schon wieder fünf Jahre her, dass ich zum letzten Mal in Berlin war, und damals hatte ich tagsüber ein umfangreiches Sightseeingprogramm, während Stoffkaufen eher einen niedrigeren Stellenwert hatte (dazu war ich lediglich in einem einzigen Geschäft in Berlin-Mitte gewesen).
Die Nähmaschine darf zu Hause bleiben
Denn die mussten wir nicht mitschleppen; dafür aber einiges an Material für die Workshops, denn schließlich wollte ich schon immer mal wissen, wie ich ein schlechtsitzendes Oberteil so anpassen kann, damit es endlich so sitzt, wie ich es haben will, und wie man Säume mit elastischen Stichen einfasst. Alles passte in mein Rollköfferchen, in dem ich noch extra Platz für Spontankäufe gelassen hatte.
Am Freitag kam dann die Stunde der Entscheidung, als wir uns alle vor dem Eiscafé im Hauptbahnhof trafen: Fahre ich mit einem Teil der Gruppe zum Maybachufermarkt (da war ich in meinem ganzen Leben noch nicht)? Oder doch lieber mit zu Hüco-Stoffe? (auch da war ich noch nie). Da ich bestimmte Vorstellungen hatte und ich ein arges Gedränge auf dem Markt befürchtete, schloß ich mich der „Hüco“-Gruppe an… um schließlich doch auf dem Markt zu landen. War das toll! Und zu Kaffee und Kuchen schafften wir es auch noch.
Die ideale Stärkung für den Schnittanpassungs-Workshop, den die Dozentin, Regine Hielscher-Gotenbach (Lehrbeauftragte an der Kunsthochschule Berlin Weißensee) leitete und sich während der dreistündigen Dauer wirklich ausgiebig Zeit für jede von uns sieben Teilnehmerinnen nahm. Herzlichen Dank dafür. Es war wahnsinnig schön, aber auch überaus anstrengend. Den Abend beschloß ich irgendwann in the middle of the night…
Kunst & Kultur : von Rokoko bis Balenciaga
… um verkatert aufzuwachen. Rotwein macht’s möglich. Aber es gibt so Tage, da muß man durch solche Phasen durch. Weil mich der Besuch des Kunstgewerbemuseums reizte und dadurch der ganze Vormittag frei war, fuhren wir spontan ein zweites Mal zum Maybachufermarkt, der mir im Sonnenlicht des frühen Vormittags ein Déjà-vu bescherte. Vor sechs Jahren waren Andy und ich in Amsterdam gewesen und waren stundenlang über den Flohmarkt an den Grachten gebummelt. Zwar gab es auf dem Neuköllner Markt am Landwehrkanal keine Hotdogs, Oliebollen oder Frikandeln, aber dafür leckere Trockenfrüchte, direkt aus Südostasien importierte Gewürze und orientalische Heißgetränke.
Und natürlich das, wofür viele von uns eigentlich hergekommen waren: nach schönen Stoffen suchen; und ich gebe zu, obwohl ich eigentlich nichts kaufen wollte, landeten am Schluss doch noch eine blaue, mit Ballerinas bedruckte Viskose und zwei Meter Jersey in weiß und türkis in meiner Einkaufstüte. Irgendwie war ich von der Idee besessen, dass ich für den Handnähworkshop am nächsten Tag noch Baumwolljersey zum Üben brauchte; was natürlich dummes Zeug war, denn Antje würde uns jede Menge Jerseyreste zur Verfügung stellen.
In der Zwischenzeit bekam der andere Teil unserer Gruppe eine Führung bei Spoonflower inclusive Workshop zum Thema Digitaldruck. Klingt interessant, aber mich interessierte der Teil des Kunstgewerbemuseums, der sich mit Mode vom Barock bis zu den Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts beschäftigt, viel brennender.
Ich kann mich natürlich irren, aber ich glaube, mit diesem Modell war das Kapitel über Cristobál Balenciaga in der 50er-Jahre-Vintage-Ausgabe der Burda bebildert.

In dem just an diesem Nachmittag neueröffneten Atelier, das sich dort auf Dauer befinden wird, kann man verschiedene Schnitte abpausen (inclusive eines schrägen zugeschnittenen Abendleids von Madeleine Vionnet) und einen Reifrock und eine Turnüre anprobieren – ein seltsames Gefühl.

Überwältigt von so vielen einzigartigen Eindrücken, hatte ich beim Kragenworkshop, bei dem ich unangemeldete Zuschauerin war, so meine Schwierigkeiten, das Gezeigte aufzunehmen, geschweige denn zu verarbeiten, während bei mir der Hunger mit Nachdruck anklopfte.

Um acht Uhr abends saßen wir dann aber an einer langen Tafel im Osmanya in Moabit und durften orientalische Köstlichkeiten genießen. Ich hatte ein Menü mit Grillteller, dazu zwischendurch einen Minztee, und zum Abschluß bzw. zum Abrunden des Desserts, einen Mokka. Länger wurde die Nach danach nicht – dank ausgiebigen, angeregten Klönens, begleitet von einem Gläschen Prosecco.

Hier wären wir gerne eingekehrt, aber die einzigen freien Plätze befanden sich in der Raucherecke, und da wollten wir nun wirklich nicht sitzen.
Von der Ankerklause am Maybachufermarkt zum Anker auf Jersey
Bei dem Workshop „Handnähprojekt im Stil von Alabama Chanin“ zeigten uns die Bloggerinnen Nahtzugabe und Machenstattkaufen einige Techniken, mit denen man T-Shirts und andere Kleidungsstücke aus Jersey aufpeppen/upcyceln bzw. kleine Fehler verschwinden lassen kann… Reverse Appliqué heißt das Zauberwort, also das Gegenteil von Applikationen: Grob gesagt, werden zwei Lagen Jersey von Hand aufeinandergesteppt und anschließend aus der oberen Lage ein Ornament ausgeschnitten, so dass die untere Lage zum Vorschein kommt. Während ich mit Hilfe einer Schablone einen Totenkopf auf den Stoff übertragen hatte, arbeiteten bereits die beiden Teilnehmerinnen rechts und links von mir jeweils an einem Anker.
Irgendwie hatte ich aber bereits kurz nach dem Aufwachen zu Kränkeln begonnen, und so hielt sich meine Aufnahmefähigkeit doch so ziemlich in Grenzen. Aber Spaß gemacht hat es trotzdem – alles war super organisiert, und trotz einiger Momente, in denen mich die Melancholie überwältigte, habe ich das lange Wochenende doch sehr genossen. Vielen Dank an mamamachtsachen, die die Nähnerd-Klassenfahrt auf die Beine gestellt und uns mit diesem Treffen eine tolle Zeit beschert hat…. und weil’s da jetzt ein Linktool für unsere Fotos gibt, häng‘ ich mich dort jetzt dran.
PS zum Thema „Tolle Zeit“: Bei der kommenden AnNäherung in Bielefeld kann ich diesmal leider nicht dabei sein, und auch was aus der AnNäherung Süd in Würzburg wird, steht noch in den Sternen – aber bei „Sewing by the Sea“ an der Ostsee wäre ich gerne dabei.