Darauf warst du nicht gefasst: Jenny und Nico.
Nicht dass ich ihnen ihr Glück nicht gönnte, aber irgendwie konnte ich mir die beiden nicht als Paar vorstellen. Auch nicht, wie sie zueinander gefunden hatten. Schon blöd, wenn man nicht von Anfang an dabei ist. Tja, Freunde der Nacht, so ist es, wenn man den Kontakt zu seinen Leuten daheim verliert. Sich ausgesperrt zu fühlen, ist nicht lustig. I’m locked out and it’s my fault?
Natürlich ist es nicht Dein Fehler – niemand ist schuld, und selbstverständlich dreht sich die Welt auch ohne Deine Abwesenheit weiter. Und sie dreht sich vor allem nicht um Dich. Dennoch…
Trotzdem fühlte ich mich so alleine wie schon lange nicht mehr. Dabei hatte mich kein Mensch verlassen. Herumzusitzen und Gedanken zu wälzen, die nirgends hinführten, bekam mir gar nicht. Verdammt, Andrea, reiß Dich zusammen und sieh zu, dass Du unter Menschen kommst, und zwar schnell.
Unter Menschen… Nur ein Katzensprung trennte mich von ihnen, und allmählich wurde es Zeit, aufzubrechen, denn wenn ich Brian richtig verstanden hatte, erwarteten uns drei Konzerte in Folge, ganz in der Nähe von Vancouver, bevor es weiterging in Richtung Vancouver Island. Nach dem Norden war jetzt der Süden dran.
Donnerstag, Freitag und Samstag: Und schon wieder war ein Konzert an einem Werktag dabei. Für alle, die am nächsten Morgen früh raus mussten, konnten solche Termine die Hölle sein, das wusste ich aus eigener Erfahrung. Allerdings konnte einem so ein Konzert mitten in der Woche so viel Auftrieb verleihen, dass man den neuen Morgen mit unerwarteter Energie begann und die gute Laune den ganzen Tag und für den Rest der Woche vorhielt.
Auch das hatte ich bereits erlebt, aber bei Luke, der so wild darauf gewesen war, uns live zu sehen, konnte ich mir das nicht so recht vorstellen. Sich einen Abend lang von Musik beschallen zu lassen, die weit außerhalb seines Radars lag, zeugte schon von besonderer Risikofreudigkeit und ließ mich vermuten, dass er es bei dem einmaligen Experiment belassen würde. Als ich dann auf die restlichen Versprengten unserer Gruppe traf, fand ich Luke ins Gespräch mit Mike vertieft. Die beiden verstanden sich bestens.
„Ich weiß ja nicht, ob Du die hundert Kilometer auf Dich nehmen willst,“ hörte ich Mike sagen.
Den Anfang hatte ich zwar nicht mitbekommen, aber es konnte nur um den vergangenen Abend gehen. Luke wollte sich doch nicht etwa ein weiteres Konzert antun? Anscheinend wohl doch, vorausgesetzt OxyGen würden ihre Setlist in Richtung Iron Maiden oder AC/DC verschieben. Aber das würden sie schon aus zwei Gründen nicht tun: Brian und der Rest der Band würden die Liste der Songs nicht schon wieder ändern, wo sie jetzt endlich die ideale Kombination gefunden hatten, und für diesen Musikwunsch eines einzelnen Besuchers war Mikes Stimme nicht geeignet.
Ebenso gut hätte man von Bruce Dickinson verlangen können, wie Johnny Cash zu singen. Zum Glück sah Mike das genau so, denn er musste zu seinem und Lukes Bedauern ablehnen.
„Schade“, war dessen abschließendes Urteil, „Deine Lady hatte recht: Ihr wart richtig gut, auch wenn’s nicht meine Musik ist.“
Aber hallo! Das war das letzte, was ich erwartet hätte: Applaus, Applaus, für Deine Worte – die gingen runter wie Öl, und nicht nur mir. Wenn Fans bei Konzerten regelmäßig aus dem Häuschen gerieten, war das wunderbar, und dass es jetzt schon besonders Hartgesottene gab, die ihnen überall hin folgten, ließ erahnen, was passieren würde, wenn sie bei dem richtigen Plattenlabel unterkamen, aber ein solches Kompliment von jemandem zu erhalten, der mit ihrer Art von Musik so gar nichts anfangen konnte, war eine ganz andere Hausnummer.
Nur zu gerne hätte ich mich in das Gespräch eingeklinkt und den Plausch weitergeführt, aber so langsam drängte die Zeit, und wir waren noch nicht reisefertig. Bei mir würde es schnell gehen: Duschen, Kaffeetrinken, meinen Kram in den Rucksack stopfen. Und das Ganze in Rekordzeit. Die Aufgabe, den Abschied zu organisieren, war erneut Mark zugefallen, denn Brian wartete bereits an der neuen Location auf uns. Bäumchen, wechsel Dich: Mark hatte Brian den Impala überlassen, damit der zuerst Danny, Sue und Madlyn am Hotel absetzen und dann gleich darauf Steve abholen konnte.
Alle anderen waren auch schon weg, und so gehörten wir dank Mikes Trödelei wieder mal zu der Gruppe, die als letztes in die Gänge kam. Mitdenken ist Glückssache, dachte ich. Anstatt mich schlafen zu lassen, hätte er mich wecken können, damit ich bei den beiden Mädels mitfahren konnte. So wären wir zwar auch zu fünft unterwegs gewesen, aber Madlyn und ich hätten noch etwas üben können und mir wäre erspart geblieben, in einem vierrädrigen Pulverfass durch die Gegend zu rollen.
Was stark übertrieben klang, war gar nicht so weit hergeholt; bei der nächsten unpassenden Bemerkung unseres Drummers würde der Ford zum Achterbahnwagon mutieren. Aber bitte: Wenn die Damen es eilig hatten und der Meinung waren, dass wir am Zwölften noch genügend Zeit für das Proben unserer Gesangslinien hatten…
„Sieh’s doch mal so“, sagte Mark beim Einsteigen zu mir, und hielt mir die Beifahrertür auf, „Dein Ehrgeiz ist ja gut und schön, aber dass Ihr Mädels ohne uns übt, macht ja wohl nicht viel Sinn.“
Das war nicht von der Hand zu weisen und ich zwei zu eins überstimmt. Die Stimme der Vernunft hatte gesprochen, und mit seiner Entscheidung, mich im Ford vorne zu plazieren und damit die Rückbank seinen drei Kollegen zuzuweisen, hatte er dafür gesorgt, dass die Fahrt für mich nicht zum Alptraum geriet. Ein Schweigekloster wollte ich allerdings auch nicht betreten, und weil von der Rückbank auch nicht ein Mucks zu hören war, suchte ich im Radio nach einem Sender, der nicht nur das übliche Hitprogramm abspulte.
Das war um Längen spannender, als darauf zu warten, dass Ryan, John und Mike damit aufhörten, sich gegenseitig anzuschweigen. Aber da konnte ich lange warten, denn John lag mehr, als dass er saß und schnarchte bei geöffnetem Fenster vor sich hin. Auf meiner Seite das Fenster zu öffnen, konnte ich vergessen, wenn ich keinen Durchzug riskieren wollte. Den muteten wir unseren Stimmbändern besser nicht zu, wenn wir nicht Sues Schicksal teilen wollten, auch wenn die Fenster nur einen Spalt breit geöffnet waren. Noch einen Ausfall konnten wir nun wirklich nicht gebrauchen.
Ein Ausfall war heute auch Ryan, der hinter mir saß, und zwar als Sprücheklopfer. Da auch er Schnarchgeräusche von sich gab und er außerdem eine Fahne hatte, brauchte ich nur eins und eins zusammenzuzählen, um zu erkennen, dass die beiden nach dem Konzert noch weitergefeiert hatten, während Mike und ich…
Stop! Seit wann gingen John und Ryan zusammen feiern? Das – und einen über den Durst trinken – die beiden? Na klasse! Noch etwas, auf das ich gerne verzichtet hätte. Wenn Brian davon erfuhr, gab es gewaltigen Ärger.
So viel zu der Aufgabe, die uns Brian gegeben hatte und an der wir beide grandios gescheitert waren. Falsch gedacht, und nun haben wir den Salat dafür, dass wir uns zu wenig um ihn gekümmert haben. Jetzt hängt er ausgerechnet mit dem ab, den du am liebsten auf den Mond schießen würdest, und wenn Du nicht aufpasst, dann seid Ihr die längste Zeit Best Buddys gewesen. Dramen, die die Welt nicht braucht!
Wenn Mike nicht merkte, was hier gespielt wurde, war ihm auch nicht zu helfen. Aber hatte er wirklich keine Ahnung von dem, was um ihn herum vorging? Ihm über den Rückspiegel einen Blick zuzuwerfen, hatte wohl nicht viel Sinn, wenn er wieder mal seine Sonnenbrille trug.
„Alles okay, Schatz?“ Da half wohl nur die direkte Ansprache, auch wenn er sich wunderte, warum ich ihn nach seinem Wohlergehen fragte.
„Warum auch nicht“, gab ich zurück, es konnte ja durchaus sein, dass auch er so ruhebedürftig war wie seine beiden ihn flankierenden Kollegen, die beiden Nachteulen. We are night owls, we work all night and…
Willkommen im Club, und er war die Obernachteule, was ich ja gewiss bestätigen könnte – oh ja, wie wahr, wie wahr, aber deswegen musst Du nicht gleich wieder so anzüglich grinsen – doch das Radio störte ihn nicht im Geringsten. Seinetwegen konnte ich gerne weiter nach einem Sender suchen, der außer Musik auch Nachrichten zu bieten hatte.
Einfach war das bei dem Geschaukel nicht, und als ich dann endlich einen gefunden hatte, hätte ich mir die Mühe auch sparen können, denn es gab nichts Neues, was den Streik anging. Einig war man sich noch nicht geworden, und so langsam machte ich mir Sorgen, ob es bei dem geplanten Termin für meine Rückreise bleiben würde. Fünf Wochen konnten ein verdammt kurzer Zeitraum sein. Und dann?
Plötzlich war das vermeintlich so weit gesteckte Ziel, der 22. Oktober, gar nicht mehr so großzügig bemessen. Hatte ich das nicht schon mal gehabt? Welcome to the déjà-vu. Hilfe, wir drehen uns im Kreis! Mark war ich geradezu dankbar, dass ihm das Dilemma nicht entgangen war und er mich von meinen düsteren Gedanken ablenkte. Fein, die Konversation kam mir nur zu gelegen, wenn sich Mike schon nicht mit mir unterhalten wollte, weil ihm sein Nickerchen lieber war.
Wenn ihm sein Nickerchen lieber war? Oh oh, Andrea, jetzt klingen wir aber so richtig zickig, gib zu, Du bist bloß neidisch. Neidisch worauf? Dass ich im Gegensatz zu ihm vor Übermüdung so aufgekratzt war, dass ich kein Auge zu bekam? Dass ich das Leben nicht so locker nahm wie er? Dass ich mich gerade kurz vor meinem persönlichen Tiefpunkt befand und Angst hatte, die Kurve nicht zu kriegen? Dass ich …
„Kopf hoch, bald haben wir es geschafft,“ meldete sich Mark, dem die ungemütliche Stille um ihn herum auch schon aufgefallen war. „Du kannst die anderen schon mal wecken. Es sind nur noch ein paar Kilometer.“
Smalltalk trifft auf Beschäftigungstherapie. Aber warum nicht? Mike anzuschubsen, war noch am einfachsten. Aber um seinen linken Nachbarn zu erreichen, hätte ich die Arme eines Gibbons haben müssen, und mein Hintermann saß so ungünstig, dass ich als Schlangenmensch bessere Karten gehabt hätte.
Faule Ausreden, Andrea, in Wahrheit hast Du einfach nur keinen Bock, mehr als drei Worte mit Ryan zu wechseln. Je weniger direkten Kontakt, desto besser. Deswegen warst Du auch froh darüber, dass Du nicht neben ihm sitzen musstest und Du ihn während der ganzen Fahrt nicht zu Gesicht bekommen hast. Wenn Du ihn jetzt weckst, ist es mit der schönen Ruhe vorbei. Lass das ruhig mal Deinen Liebsten machen.
Was er zu meiner Erleichterung tat. Schön, das Nachteulentrio war wach und konnte sich beim Ausladen nützlich machen. Gepäck aufs Zimmer bringen, einen Happen essen und dann ab in die Koje. So sah der Plan aus. Mein Plan. Aber der war leider nicht mit dem der anderen kompatibel. Jetzt rächte sich der fehlende Schlaf der letzten Nacht, so schön der Grund dafür auch gewesen war. Ja toll. Das Nachteulentrio war wach und wieder fit, um noch einen draufzumachen, während ich kurz davor war, im Stehen einzuschlafen.
„Geh ruhig“, brachte ich, begleitet von herzhaftem Gähnen, hervor und überzeugte Mike davon, dass es mir nichts ausmachte, wenn er mit den beiden anderen etwas trinken ging.
Je eher sich das verkorkste Verhältnis zwischen ihm und Ryan wieder einrenkte, desto besser für alle, und vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn der Keyboarder dabei war. „Aber tu mir nur einen Gefallen, ja? Nicht, dass ich Euch kontrollieren will, aber habt ein Auge auf John.“
Den Teil, dass sie aufpassen sollten, dass er sich nicht zu sehr die Kante gab, ließ ich unausgesprochen, obwohl ich das Resultat der vergangenen Nacht während unserer Fahrt nach Südwesten ausgiebig hatte bewundern können. Wenn Mike schlau war, ließ er es gar nicht erst zu solchen Exzessen kommen.
Den geselligen Abend so ausufern zu lassen, dass die Hälfte der Band am Tag des Auftritts als Schnapsleichen endete und das zweistündige Konzert verkatert durchzuziehen, war eine Erfahrung, auf die keiner von uns sonderlich wild war. Besonders nicht an diesem Abend, an dem nicht nur die alte Mannschaft wieder komplett war, sondern an dem es für die Band um die Wurst ging.
Brian war schon lange auf der Suche nach einem vernünftigen Plattenlabel, und nun bestand zum ersten Mal seit langem eine reelle Chance dazu. Oder würden die Leute, die er zu treffen hoffte, sich doch erst am nächsten oder übernächsten Abend blicken lassen? Ich musste auch gar nicht mehr sagen, denn um diese Aufgabe hatte sich bereits Mark gerissen. Welchen Erfolg er mit seiner Ansage hatte, würden wir jedoch erst am nächsten Morgen mit Sicherheit wissen.
♪♪♪ „Sweet sweet sweet, could you taste it,“ ♪♪♪ plärrte es aus dem Radio, das zu dieser frühen Stunde jemand eingeschaltet hatte.
Mit ersten Gästen rechnete man um kurz nach sechs Uhr noch nicht. Es konnte ja keiner wissen, dass ich auch in dieser Nacht nicht vernünftig geschlafen hatte. Aber nicht, weil es mit meinem Liebsten so heiß hergegangen war, sondern weil mein Schlafrhythmus machte, was er wollte. Und im Augenblick wurde ich durch das kleinste Geräusch wach. Natürlich fand ich es rührend, dass Mike sich bemüht hatte, beim Betreten des Zimmers aus Rücksicht auf mich besonders leise zu sein.
Leider war er im Dunkeln so blind wie ein Maulwurf, und weil er kein Licht anmachen wollte, war er über seine eigenen Füße gestolpert und mit dem Bettpfosten kollidiert, um schließlich unsanft neben mir zu landen. Jeder hätte da geflucht, denn wie sich das anfühlte, wusste ich aus eigener Erfahrung; und es reichte schon, dass ich mir das vorstellte, um endgültig wach zu sein. Irgendwann zwischen zwei und drei Uhr zurückzukehren und dabei noch stocknüchtern zu sein… really? Are you kidding me? Ärger, Dein Name ist Mitchell…
Jedenfalls war ich danach so schnell nicht mehr eingeschlafen, nach mehrmaligem, schier endlosem Wälzen von der einen auf die andere Seite, untermalt von seinen Schnarchgeräuschen, hatte ich irgendwann meine verzweifelten Versuche, wieder einzuschlafen, schließlich aufgegeben – nur um festzustellen, dass beim nächsten Blick auf das Handydisplay einige Stunden vergangen waren. Resigniert musste ich mir eingestehen, dass für mich die Nacht nun definitiv vorbei war und ich besser daran tat, meinen Allerwertesten aus dem Bett zu schwingen.
Ein kurzer Spaziergang zur nächsten Tankstelle, auf der Suche nach Kaffee, würde das Gefühl der Zerschlagenheit bestimmt vertreiben. So gesehen, war frische Luft, bestimmt nicht das verkehrteste; so empfindlich kühl, wie es draußen war. Ja, Mitte September war das Klima schon nicht mehr so sommerlich. Aber ich hatte schon größere Kälte ausgehalten. Strömenden Regen wie den, der mich vor der Tür erwartete, fand ich dagegen nicht so prickelnd. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Aber zu meiner Erleichterung brannte im Frühstücksraum schon Licht, auch wenn es noch kein Frühstück gab. Die Kaffeemaschine war jedoch bereits in Betrieb, um die Frühaufsteher zu versorgen. Leute wie mich, die so früh noch keinen Bissen herunterbrachten und nur eines brauchten: Kaffee – extra stark und heiß wie die Hölle; nur süß durfte er nicht sein. Sauer natürlich auch nicht.
♪♪♪ You’ll never, never, never… taste it.♪♪♪
Von daher passte das Lied aus dem Radio ausgezeichnet. Nur war mir an diesem Morgen leider nicht danach. Üblicherweise begann ich den Tag nicht mit Totenstille, und zum Wachwerden waren schnellere Songs für mich genau das Richtige, aber heute hätte es eine ruhigere Nummer auch getan. Wie ging der Spruch nochmal? ‚Kaffee schmeckt am besten, wenn man ihn morgens trinkt und alle ihr Maul halten‘. Ha ha, wem das eingefallen war, der war mit Sicherheit niemand, der laut trällernd den neuen Tag umarmte. Im Stillen sympathisierte ich mit ihm, ließ mir aber nichts anmerken.
Morgenmuffel gut und schön, aber schlechte Laune an anderen auszulassen, nur weil sie morgens besser in die Gänge kommen als ich, bringe ich dann doch nicht über mich. Lieber ziehe ich mich dann zurück, um noch ein paar Minuten für mich zu haben. In öffentlichen Verkehrsmitteln ist das dann ganz gerne ein Fensterplatz am Ende des Waggons. Also setzte ich mich im Schneidersitz auf eine der Bänke im hinteren Bereich, wo mich nicht gleich jeder sah und ging auf Tuchfühlung mit meiner extragroßen Kaffeetasse.
Wenigstens ein Pluspunkt in diesem Etablissement, das wegen der Konferenzräume und des großen LKW-Parkplatzes schräg gegenüber bei Geschäftsleuten und Fernfahrern sehr beliebt war; was nicht zuletzt auch an den moderaten Preisen lag. Eines musste ich Brian lassen: Bei der Organisation unserer Unterkunft für die nächsten Tage hatte er nicht daneben gegriffen.
Die Aussicht aus dem Panoramafenstern war zwar nicht berauschend, aber damit konnte ich leben, denn am Essen gab es nichts auszusetzen. Auch am Kaffee nicht – und genau davon reichte mir heute morgen eine einzige Tasse nicht. Nachschub musste her. Mit diesem Wunsch war ich trotz der frühen Stunde inzwischen nicht mehr die Einzige.
Vor mir an der Maschine stand Steve und zapfte sich seelenruhig eine ganze Kanne ab. Wow – eine ganze Kanne! Selbst ich hätte mich das nie getraut, dabei war ich bei meinen Freunden als Coffee-Junkie verschrien, zumal der Mann einen Herzinfarkt überstanden hatte. Das lag bereits zwar ein paar Wochen zurück, trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Ärzte, die ihn behandelt hatten, das gutheißen würden. Ich hatte jedoch das Gefühl, in ein Wespennest zu stechen, wenn ich ihn gezielt darauf ansprechen würde.
Abwarten und Tee trinken, war in solchen Fällen mein bevorzugtes Motto. Natürlich war das nur symbolisch gemeint, aber so wie es aussah, mochte auch Mr. Harris Tee, und zwar wörtlich. Erst Kaffee – jetzt Tee… was hatte er damit vor? Und schon stand ich mit einem Fuß an der Schwelle zu meinem nächsten Fettnäpfchen.
Bloß jetzt nichts dummes von mir geben… aber da war es schon zu spät. Ja, der Tee sei besser, als er gedacht hatte, und mit Kaffee hätte er es nicht so, auch wenn es nicht so aussah. Ja, ja, es ist nie so, wie es aussieht, dachte ich. Aber in diesem Fall stimmte es sogar. Die Kanne war für seine Kollegen am Set. Stimmt. Wie hatte ich bloß Dave, Paul und Frank vergessen können. Aus den Augen, aus dem Sinn… Aber vielen Dank für die freundliche Erinnerung…
Meine nicht vorhandene Begeisterung bei der Erwähnung des zuletzt genannten Namens konnte ich darum nur sehr schlecht verbergen, aber Steve war zu taktvoll, um darauf einzugehen. Statt dessen nahm er unser Zusammentreffen am Kaffeeautomaten zum Anlass, um mir noch einmal zu danken. Leider war ja mein Besuch im Krankenhaus so kurz vor unserer Abreise doch etwas knapp ausgefallen. Viel Zeit war nicht für ein ausführlicheres Gespräch gewesen.
Ja, komm du nur erst mal an – und dann viel Spaß beim Begutachten der Schäden; ich wette, Frank lässt keine Gelegenheit verstreichen, Dir meine Unfähigkeit aufs Brot zu schmieren.
Viel konnte er ihm in der kurzen Zeit nicht erzählt haben, dennoch musste eine Planänderung her. Dieser falschen Schlange das Feld überlassen? Never! Nur sollte ihm ein anderer als ich die Augen öffnen, dann dazu war ich zu stark involviert, und da der Typ von Anfang an ein rotes Tuch gewesen war, stand zu befürchten, dass ich mich im Ton vergriff oder komplett vergaß. Objektivität sah anders aus. Höchste Zeit für einen Themenwechsel.
Nichts leichter als das, denn wir waren schon bald nicht mehr alleine; nach und nach trudelten meine Kollegen ein. Oder sollte ich ‚meine ehemaligen‘ sagen? So richtig angekommen war ich an meinem neuen Platz noch nicht. Dazu hätte ich mich als Teil der Band fühlen müssen; tat ich aber nicht. Auf irgendeine Weise fühlte ich mich eher mit Leslie, Dave und Bradley verbunden als mit Sue oder Madlyn, obwohl die beiden wirklich nett waren.
Dennoch waren nicht sie es gewesen, mit denen ich stundenlang auf Landstraßen unterwegs gewesen war oder Dutzende von Sicherungen überprüft und kilometerweise Kabel verlegt hatte. Das sahen die drei ähnlich und setzten sich mit ihrem Geschirr zu uns an den Tisch. Schön, dass Dave einen großen Stapel Pancakes mitgebracht hatte, an dem wir uns bedienen durften; eine Einladung, die mich mit einschloss. Kaffee musste ich auch keinen mehr holen, das hatte Steve mit seiner Kanne schon getan.
Sollte noch etwas fehlen, so konnte ja ich losziehen. Obst oder Joghurt zum Beispiel für Leslie oder Croissants für Bradley. Oder mich… Wie lange hatte ich schon keine Croissants mehr gegessen? Oder Scones? Mit Erdbeermarmelade und Clotted Cream. Ach ja, morgens um sieben konnte die Welt doch noch in Ordnung sein. Bei diesem riesigen Angebot an leckeren Speisen konnte selbst ich nicht widerstehen.
Bis ich mein Tablett mit allem, was das Herz begehrte, beladen hatte und an den Tisch zurückgekehrt war, hatte der Stapel Pancakes deutlich an Höhe eingebüßt, und Dave war gerade dabei, Steve über den Verlauf der letzten Wochen ins Bild zu setzen, wobei er auch unsere Startschwierigkeiten nicht ausließ, den kaputtgegangenen und inzwischen reparierten Verstärker inklusive.
Mir war klar, dass genau das Stichwort war, das ich insgeheim befürchtet hatte. Nun würde sich zeigen, ob der Versuch erfolgreich gewesen oder völlig danebengegangen war.