Statt einer Fortsetzung des Geburtstagsdramas an Tante Lissys Kuchentafel gibt es heute mal eine Etüde der anderen Art – von Myriade stammt die Wortspende zur aktuellen Etüde: Giraffe, mondsüchtig und suchen.
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Nachts im Museum
Mondsüchtig des Nachts, schlaftrunken am Tage… so fühlte er sich schon seit einer Weile.
Den Job als Nachtwächter würde Paul sicher nicht mehr lange ausüben, wenn das so weiterging. Auch wenn es schwierig war, in absehbarer Zeit einen Termin beim Spezialisten zu bekommen: Er wusste, er würde schleunigst etwas tun müssen, oder er konnte sich bald einen neuen Job suchen.
Reiß dich zusammen, ermahnte er sich selbst, als er die Uniformjacke zuknöpfte und die Mütze geraderückte. Noch einen Schluck aus der Thermoskanne, dann konnte er die Stufen zur Afrika-Abteilung in Angriff nehmen. Hier, im ersten Stock, zwischen an die Wände gemalten Giraffen, Elefanten und Antilopen, würde er heute Nacht Runde um Runde drehen, doch ganz wohl war ihm dabei nicht.
Lieber hätte er mit Rudi getauscht, der im australischen Bereich des Museums Dienst tat. Selbst Sven schien mit seiner Aufgabe, die nordamerikanischen Artefakte zu bewachen, das beneidenswertere Los gezogen gezogen zu haben.
Am gruseligsten waren die Masken überall. Zusammen mit dem schummrigen Licht auf seinem Stockwerk… Paul schlug jedes Mal ein Kreuz, wenn er an ihnen vorbei war. Am liebsten hätte er gleich danach ein Fenster aufgerissen, aber das hätte sofort den Alarm ausgelöst. Statt dessen blickte er durch die Scheiben in die Nacht hinaus. Der Anblick sich sanft im Wind wiegender Äste war so beruhigend.
Blutrot stieg der Mond über den Häuserzeilen aus dem 19. Jahrhundert auf und zauberte lange Schatten aufs Kopfsteinpflaster. Zu spät registrierte Paul die Silhouette einer ausgewachsenen Giraffe, die sich mit beängstigender Geschwindigkeit dem Fenster näherte und ihm jäh die Sicht nach draußen versperrte.
Das letzte, das Paul wahrnahm, bevor er in Ohnmacht fiel, waren die rotglühenden Augen des Untiers und die seltsam geformten Hörnchen auf ihrem Kopf.
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283 Wörter für eine Etüde, die eigentlich viel länger sein sollte und deshalb nach einer Fortsetzung verlangt.