Kapitel 9 *** Flo : So weit die Füße tragen
I watched the world float to the dark side of the moon
I feel there’s nothing I can do, yeah. -3 Doors down „Kryptonite“-
In schlechten Horrorfilmen laufen sie in den Keller oder nach ganz oben. Immer. Niemals versuchen sie, ein Fenster aufzubekommen, und was dann passiert, kann sich jeder denken – nämlich das gleiche, das Fiona und Feli in dieser Sekunde durch den Kopf gehen muss: Warum zum Henker rennen wir wie die Irren blindlings in den Wald hinein?
Lauft!
Ellies Schrei war meilenweit zu hören. Die berühmte Schrecksekunde? Hatten wir nicht – Jo, der mit Ellie im Schlepptau an uns vorbeischoss, ließ uns keine Zeit dazu. Der Wald steht schwarz und schweiget? Jetzt nicht mehr – vierzehn Füße bahnen sich im Affenzahn ihren Weg über Moose und Flechten hinweg und hechten zwischen den Bäumen hindurch. Wege? Sind überbewertet, also auch der Weg, auf dem wir hergekommen sind. Natürlich könnten wir auch so versuchen, uns zum Bulli zurückzuschlagen und zusehen, dass wir Land gewinnen. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie lange mein Schatz in ihrem Zustand dieses Hetzen über Stock und Stein noch durchhält, aber da bin ich bei Jo an der falschen Adresse.
„Klar, man könnte auch morgens mit dem Pferd zur Arbeit reiten!“
Und wenn’s geht, noch an den Klippen entlang oder durch den Nebel? Da hat wohl eindeutig jemand zu viele schlechte Werbespots gesehen. Wenn das in diesem mörderischen Tempo noch länger so weitergeht, dann…
„Macht mal langsamer“, höre ich Finn schnaufen, aber nicht aus Rücksicht gegenüber Lilly. Nö, unserem Supersportler geht so langsam der Atem aus; die Puste, aber nicht die Fragen: „Dein Ernst jetzt?“
„Sehe ich so aus, als ob ich Witze mache?“ kommt es von Jo zurück, der nun tatsächlich sein Tempo drosselt. „Schon mal darüber nachgedacht, dass es vielleicht noch mehr von denen geben könnte und sie wissen, dass der Bus uns gehört…“
… Irrtum, es reicht schon die Vermutung, und dann könnte es gut sein, dass sie uns abpassen und wir ihnen geradewegs in die Arme laufen, ergänze ich in Gedanken. Aber ob das, was wir da gerade tun, so viel schlauer ist? Hat von uns auch nur einer irgendeine Ahnung, ob uns die Typen in Schwarz überhaupt noch auf den Fersen sind? Die Gelegenheit ist günstig, als in dem dunstigen Licht Felsen in Sicht kommen.
Sich hinter einem dieser riesigen Blöcke zu sammeln und so leise wie möglich zu atmen, ist immer eine gute Idee. So fehlt uns zwar die Sicht auf das Gebiet, durch das wir wie bekloppt gerast sind, doch dafür sperren wir unsere Lauscher umso aufmerksamer auf. Ob es am immer dichter werdenden Nebel liegt oder nicht, ringsum knackt es gedämpft mal hier, mal da: Nach diesen wildgewordenen Möchtegern-Ninjas klingt das nicht, eher nach einem Tier. Die Luft scheint tatsächlich rein zu sein – das wäre jetzt doch die Gelegenheit, die Strategie zu wechseln.
An sich kein übler Gedanke, aber wenn ich in die ratlosen Gesichter der anderen blicke, haben die genauso wenig einen Plan wie ich. Zum Bulli zurück? Jo ist immer noch dagegen und hat Ellie und Finn auf seiner Seite. Zur nächsten Ortschaft? Ich wette, von uns weiß keiner, wo die ist. Und ohne funktionierendes GPS oder vernünftige Karten? Schwierig. Und durch die Schwaden einfach aufs Geratewohl weiter laufen? Ein Blick auf Lilly neben mir, und ich weiß, dass diese Option bei ihr auf wenig Gegenliebe stößt. Damit hält sich die Anzahl unserer Möglichkeiten in Grenzen. In ziemlich engen Grenzen sogar. Und immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her? In Fantasyfilmen naht in solchen Momenten ganz gerne mal die Rettung, wodurch auch immer.
Doch das hier ist kein Fantasyfilm, sondern die Wirklichkeit. Und in der wird das vorhin noch gedämpfte Knacken immer lauter und lässt in meiner Vorstellung die Ninjas von vorhin hinter dem nächsten Gebüsch erscheinen, und unwillkürlich drücke ich Lillys Hand fester – bereit, mich vor sie zu stellen und zuzuschlagen, falls die Typen auf uns losgehen.
Aber da ist nichts.
Dennoch… ich hätte schwören können, dass da was war. Etwas oder jemand.
Annwn Annwn Annwn…
„Psst, habt ihr das auch gehört?“ kommt es von Feli. Waren die Stimmen von neulich am Feuer doch keine Einbildung. Wie viele außer mir hören dieses Geraune noch? Oder leiden wir alle unter einer gewaltigen Sinnestäuschung?
Annwn Annwn Annwn…
Es sollen sich schon ganz andere in diesen Wäldern verlaufen haben und spurlos verschwunden sein. Auch ohne Gangster, die hinter ihnen her sind. Wobei… wenn man vom Teufel spricht… das ist es wieder, das Knacken, und es wird dichter. Schritte im Unterholz, Stimmen im Wind. Das können nur die Typen aus der Burg sein, und inzwischen müssen sie gemerkt haben, dass der Stein weg ist. Und wenn das so ist, dann wissen sie auch, dass wir ihn haben. Jetzt kann uns nur noch ein Wunder retten.
Oh, bitte, bitte, bitte, flehe ich und stolpere hakenschlagend, mit Lilly an der Hand, wie ferngesteuert vorwärts und mitten in die Suppe hinein, die anderen dicht hinter uns. Kalte und feuchte Luft hüllt uns ein. Die Orientierung haben wir in dem schimmernden Weiß längst verloren, ab und zu kommt von vorne Wellengeplätscher. Komisch, an einen See kann ich mich gar nicht erinnern. Aber darüber kann ich mir später immer noch Gedanken machen, jetzt muss ich erst mal Lilly über die sumpfigen Stellen hinweghelfen.
„Da!“ tönt es vom Ende der Schlange, und als ich mich irritiert Lilly zuwende, setzt Jo hinzu: „Jetzt bleibt doch mal stehen.“
Was glaubt der denn, was das hier werden soll? Sollen wir wie die Ölgötzen so lange im Morast stillstehen, bis wir darin versunken sind? Als Moorleichen, die man nach Hunderten von Jahren findet, wollten Lilly und ich eigentlich nicht enden.
Leider aber lässt er nicht locker. „Mensch Leute, da vorne – seht ihr das denn nicht?“
Schön, wenn Leute in Rätseln sprechen – so kryptisch drückt sich ja noch nicht mal Lilly aus, wenn sie mal wieder eine ihrer Schwangerschaftslaunen hat. Dann aber schaue ich genauer hin, und tatsächlich taucht aus dem sich lichtenden Nebel das Ufer eines Sees auf, und mittendrin eine Insel. Trotzdem traue ich dem Frieden nicht – ja, sollen wir denn hinüber waten oder gar tauchen? Inzwischen ist es nämlich merklich kühler geworden, und der Gedanke an eine Nacht im Freien und mit nassen Klamotten lässt mich vor Kälte bibbern.
Alles, bloß nicht das! Ja, gibt es denn keinen anderen Weg?
Als ob jemand meine Gebete erhört hätte, zieht sich plötzlich das Wasser zurück und gibt einen unregelmäßig und grob gepflasterten Weg frei. Wer auch immer den angelegt hat, muss sich an den alten Römerstraßen orientiert haben, oder an dem Fußweg, auf dem man bei Ebbe zum Mont-Saint-Michel hinüber laufen kann.
Annwn Annwn Annwn…
Jetzt können wir es ganz deutlich hören. Es kommt von der Insel im See. Für Jo eindeutig ein Zeichen, denn als das Wasser auch die letzten Steine freilegt, überholt er uns und reißt die Führung an sich. Do you believe that you can walk on water? Ehe Lilly und ich piep sagen können, finden wir uns am Ende der Gruppe wieder und heften uns an Ellie, die mit ihren rosa und türkisen Strähnen wie leuchtende Zuckerwatte aus dem Nebelgrau heraussticht. Keine Minute zu früh: kaum haben wir die im fahlen Licht silbergrau glänzenden Ufersteine hinter uns gelassen, beginnt auch schon das Wasser zu steigen und verschluckt den hinter uns liegenden Teil des Wegs.
Endlich angekommen, stöhne ich. Eigentlich ginge der Weg sogar noch weiter. Vor uns tut sich eine endlos scheinende Treppe auf, doch erschöpft von dem Gänsemarsch übers Wasser, lassen wir uns einfach fallen. Mir schmerzt jeder Muskel im Leib. Kein Wunder, wenn sich gerade eben noch jeder Schritt so angefühlt hat, als kämpfe man sich durch eine Schicht aus Wackelpudding. Lilly geht es nicht anders, doch mehr als sie in meine Arme zu nehmen, kann ich auch nicht tun, bevor mich eine nie gekannte Müdigkeit überfällt.
Als ich wieder zu mir komme, fällt mein Blick als erstes auf einen in aller Eile und mehr schlecht als recht zusammengezimmerten Tisch mit Hockern drum herum. Beim Anblick des hölzernen Geschirrs, auf dem sich Pilze, Nüsse und Holunderbeeren türmen, macht sich mein Magen bemerkbar. Wann haben wir eigentlich zum letzten Mal etwas gegessen?
Ein Apfel rollt vom Tisch und stößt an ein Paar Füße. Füße mit kupfernen Reifen um die Knöchel, dann schiebt sich eine Kutte in schmutzigem Weiß in mein Blickfeld, und nachdem ich die vor mir stehende Gestalt von unten nach oben gemustert habe, bleibe ich an der Tätowierung hängen, die die Stirn der Fremden ziert. Graues Haar, gebieterische Haltung, ein kupferner Reifen um den Hals… allein der Schmuck muss Tonnen wiegen, doch seine Trägerin bewegt sich mit einer Leichtigkeit durch den Raum unter dem Blätterdach, als ob sie schweben könnte.
Als sie das Wort ergreift, verstummt das Vogelgezwitscher um uns herum und mir wird flau im Magen, aber nicht mein Hunger ist daran schuld. Man muss mich nicht kneifen, damit ich erkenne, dass dies kein Traum ist; auch wenn sich das hier wie ein Alptraum anfühlt: Bedenke wohl, worum du bittest, denn es wird dir gewährt werden, stöhne ich innerlich gequält auf, denn hinter den Nebeln von Avalon aufzuwachen, hat mir nicht vorgeschwebt, als ich um ein Wunder gebeten habe.
Marion Zimmer-Bradley hätte ihre wahre Freude an uns gehabt.
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Die Vorlage zum 9. Kapitel: Jugendliche kommen zu altem Stamm (ähnlich wie Indianer), finden bei den religiösen Siedlern Zuflucht (leben nur mit Material und Nahrungsmitteln aus dem Wald).