Kapitel 15 : Chasing Cars
Hello, goodbye I was staring in the devil’s eyes. Should’ve left me way back, should’ve left me way back by the roadside
-Billy Idol „Bitter Taste“-
Lilly zurücklassen? Das kommt gar nicht in die Tüte, auch wenn der Vorschlag von ihr selbst kommt, weil sie uns alle ja nur aufhält (ihre Worte). Wir werden uns auf keinen Fall trennen, der Meinung ist auch Fiona. Lieber halten wir sie gestützt, Fiona rechts, ich links, und schleppen uns mühsam mit ihr quer durch den Wald, als sich im Osten der Himmel rötet. Flo wäre jetzt sicher mit einem Zitat von Legolas um die Ecke gekommen, von wegen Blut wird fließen. Das wird es mit Sicherheit, wenn wir Lilly nicht schleunigst ins Krankenhaus bekommen, dazu muss ich nicht die Morgenröte orakeln.
Der letzte, der sich die Schuld geben müsste, soll ich sein? Ich weiß, Fiona wollte nur nett sein und mich von meinen trüben Gedanken ablenken, aber in dem Punkt irrt sie sich. Ohne mich wären wir nämlich gar nicht erst in diese Lage gekommen. Aber ich musste ja unbedingt alles an mich reißen und dafür sorgen, dass wir auf dieser verdammten Insel landen. Hätte ich nicht die Führung an mich gerissen, wären wir nicht auf der Insel gelandet. Aber dann auch noch Flo und sein Wissen über Avalon, wie er sie nannte, als Spinnerei abzutun, war der nächste Fehler in einer langen Reihe.
Fantasykram. Echt jetzt?
Oh ja, es war ja so viel einfacher, mich Finn anzuschließen, als auf meinen Bauch zu hören, der sich eh viel zu selten meldet. Aber wenn er es dann schon mal tut, bin ich ja zu stolz oder mir zu fein (meinetwegen auch zu blöd), der Intuition nachzugeben. Dabei hatten wir die Warnzeichen die ganze Zeit vor unserer Nase. Obst und Gemüse, das nur im Herbst reif ist, jetzt schon essen zu können. Pilze, die auch erst noch ihre Saison haben werden… Aber das ist ja das Fatale an der sogenannten Gruppendynamik: Wenn sich alle anderen einig sind, hat der Eine, der sie vom Gegenteil überzeugen will, das Nachsehen und von Anfang an verloren. In dem Fall Flo, der noch nicht mal mehr Lilly überzeugen konnte. Lilly, die sich natürlich geschmeichelt gefühlt hat, als sie so umsorgt wurde. All die Fußmassagen und Kräutertees, klar. Ein Schelm, der Böses dabei denkt (was natürlich keiner sein möchte, uns reichte dazu schon Flo). Mutter und Kind sollen es gut haben? Damit bei der Geburt nichts schiefgeht? Tja, warum wohl…
Am Arsch, hätte Ellie jetzt gesagt.
Klar, wenn dieser Ort erst der Grund dafür ist, dass Lillys Rhythmus völlig aus den Fugen und ihr Organismus so durcheinander geraten ist, dass ihr Körper schmerzt und sie sich wie durch die Mangel gedreht fühlt wie bei einem Jet Lag, höre ich im Geiste, wie Flo bei seinem Versuch, uns zu erklären, was um uns herum gerade passiert.
Irgendwann hat er es bei mir versucht, aber hängengeblieben ist davon nicht mehr viel. Außer, dass auf Avalon die Zeit anders verläuft als bei uns und dort ewiger Sommer ist. Da habe ich seinem Geschwätz noch keine Bedeutung beigemessen, doch je länger ich darüber nachdenke, desto stärker macht sich ein mehr als ungutes Gefühl in mir breit. Es jetzt direkt Panik zu nennen, wäre dann doch etwas verfrüht, und doch… Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass an dem, was Flo uns sagen wollte, doch mehr dran ist.
Hinzu kommt noch, dass wir zusätzlich zu diesen Verwerfungen in der Zeit auch noch zwischen Avalon und unserer Welt hin und her gependelt sind, dass Jet Lag bei Lilly ein noch viel zu harmloser Ausdruck wäre. Wohl eher sowas wie ein Time oder World Lag. Und trotzdem schweifen meine Gedanken immer wieder zurück zu dem langsameren Verlauf der Zeit.
Ein Mann ging zum Feiern mit Fremden in eine Höhle, und als er am nächsten Tag erwachte, hatte er nicht nur einen Mörderschädel und langes Haar und einen Bart so weiß wie Schnee, denn es waren 100 Jahre vergangen. Nicht, dass ich glaube, in unserem Fall wären es genauso viele Jahre. Aber was, wenn man uns während unserer Abwesenheit als vermisst gemeldet hat und das hier gar nicht mehr 2022 ist? Ein verpasstes Festival wäre da unser geringstes Problem.
Das ist der Moment, wo ihr weglaufen müsst!
Mit Forken und Fackeln womöglich, so wie in Shrek? Stop. Don’t Panic. Erstens würde uns weglaufen nichts helfen (mal abgesehen davon, dass wir es gar nicht können) und zweitens wäre eine Panik genau das Falsche. Auch wenn ich spüre, wie sie in mir hochsteigen will. Doch eine Panik kann ich mir jetzt überhaupt nicht leisten. Ich muss stark sein. Für Lilly. Nein, für uns alle. Denn wenn wir aus diesem Wald jemals hinausfinden wollen, müssen wir uns zusammennehmen und auf unseren Verstand hören. Und der sagt mir, dass wir früher oder später auf eine Straße stoßen werden.
Hoffentlich früher als später.
„Ewiger Sommer? Ach, wäre das schön…“ seufzt Fiona, nachdem wir unsere kurze Rast mit der vor sich hin stöhnenden Lilly beendet haben. Ja, weil es dann lange hell bleibt, nur für den Fall, dass wir noch weiter stundenlang ohne Erfolg durch diesen Wald irren. „… Wärme, Sonne, Vogelgezwitscher, nichts stört die Ruhe des Waldes…“
Die Ruhe des Waldes? Welche Ruhe, will ich schon fragen, denn was uns da durch das Labyrinth aus mannshohen Sträuchern und dicht belaubten Eichen entgegen rauscht, ist kein Bach, auch wenn es grausilbern schimmert. Denn ihm fehlt das typische Funkeln, auch wenn es in unregelmäßigen Abständen blitzt und das Licht der Mittagssonne reflektiert. Als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte, sind wir voll und ganz auf das Jetzt fokussiert: Eine Straße. Mein Gott, es ist eine Straße. Meine Gebete wurden erhört.
Wenn wir jetzt noch jemanden finden, der für uns anhält, das wäre das größte Glück überhaupt. Wir, und ganz besonders Lilly, wären so gut wie gerettet. Und das ist jetzt das Einzige, was zählt. Was spielt es da schon für eine Rolle, was für einen Tag wir haben. Das wäre doch nun wirklich nebensächlich.
Hilfsbereitschaft sieht anders aus. Nachdem wir gefühlt eine Stunde mehr schlecht als recht an der Straße entlang gestolpert sind, hat sich dann doch jemand in einem Van erbarmt und angehalten. Der Begleiter der Fahrerin hat dann dafür aber auch nicht lange gefackelt, die nächstgelegene Klinik telefonisch vorzuwarnen.
Nachdem Lilly in der Notaufnahme aufgenommen wurde, haben sie uns in den Wartebereich der Lobby geschickt. Nun sitzen wir hier und können nichts weiter tun als Warten. Okay, das stimmt nicht ganz. Es hat eine Weile gedauert, bis wir zwei freie Steckdosen zum Aufladen unserer Handys gefunden habe. Und während unsere Handys nun friedlich am Netz hängen und vor sich hin laden, hat es sich Fiona auf dem Sofa gemütlich gemacht. Es dauert nicht mehr lange, bis sie einschläft, so wie sie dahängt. Die Glückliche. Im Gegensatz zu mir, denn Stillsitzen fällt mir unglaublich schwer. Es muss wohl am Adrenalin liegen, also stehe ich auf und durchquere die Lobby, um mir am Kiosk einen Kaffee und etwas zu lesen zu holen. Vielleicht komme ich so wieder runter. Ja, ja, ich weiß. Kaffee ist zwar nicht gerade das ideale Mittel, um sich zu beruhigen. Aber bei der Plörre, die sie so in Krankenhäusern servieren, besteht keine Gefahr, dass mein Blutdruck durch die Decke geht. Im Gegenteil. Da braucht es schon stärkere Geschütze. Wie zum Beispiel die Titelseite des nächstbesten Klatschblattes oder besser gesagt das, was mir die Sun als Datum anzeigt: Dienstag, der 21.Juni 2022.
Mir fällt ein riesiger Betonklotz vom Herzen. Wir haben Juni, Halluja, und noch hat das Glastonbury Festival nicht anfangen, aber ich ahne es bereits jetzt: Es wird ohne uns stattfinden. Allzu viele Tage sind seit unserer Ankunft in Südengland zwar nicht vergangen, aber da meine Anrufe nach Hause ausgeblieben sind (ich verfluche mich jetzt schon, dass ich so blöd war, mich auf diesen Deal einzulassen), wird mein Brüderchen sich schon den wildesten Spekulationen hingeben. Habe ich wirklich geglaubt, das Datum, an dem wir wieder auftauchen, wäre völlig unwichtig?
Schon allein deswegen nicht, weil ich mir lieber nicht vorstellen möchte, wie groß das Geschrei von der biologischen Wunder-Elefantenschwangerschaft wäre, wenn heute der 31. August oder der 21. September wäre, oder womöglich sogar der 22. November. Mein Geburtstag. Na, Happy Birthday, kann ich da nur sagen.
Wohl eher nicht.
Ob die Akkus vollständig aufgeladen sind oder nicht, ich glaube, jetzt wäre der Moment, Marcus anzurufen. Und wie ich ihn kenne, wird er nicht zögern, es an die anderen weiterzugeben.
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Die Vorlage zum 15. Kapitel: Gruppe mit der Schwangeren findet Straße, stoppen ein Auto, holen Hilfe, Schwangere kommt ins Krankenhaus, Eltern werden informiert.