Wie war das nochmal mit dem Teufel und dem größten Haufen? Ein Gedanke, der sich mir nicht zum ersten Mal aufdrängte. Diesmal hatte es nicht nur die Problemsicherung erwischt, an der ich bereits zweimal herumgedoktert hatte, sondern auch noch zwei andere – eine davon an einer höhergelegenen Stelle, an die ich nur unter großen Schwierigkeiten herankam.
Das konnte kein Zufall sein. Eine Leiter oder einen Hocker hatte ich hier auch nicht gesehen. Das grenzte ja schon an Sabotage. Als ob irgend jemand da oben sich vorgenommen hatte, meine geplante Aussprache mit Mike schon im Vorfeld zu sabotieren. Fluchend streckte ich mich. Meine Finger berührten gerade so den Knauf aus Porzellan. Sicher würde es auch so gehen, aber in diesen Katakomben hätte ich jetzt doch lieber meinen Deputy bei mir gehabt. Doch ob der noch den Weg zu mir herunter finden würde, stand in den Sternen. Noch ein kleines Stückchen, dann hatte ich es.
Die Musik setzte ein und mit einer kleinen Verzögerung auch die flackernde Beleuchtung im Gang. Na also, geht doch! Und jetzt nichts wie hoch! Vielleicht hatte ich ja nun etwas mehr Glück und fand Mike endlich nach dem dritten Anlauf. Ich knipste die Lampe aus und machte mich zum Gehen bereit, als ich Schritte näherkommen hörte. Typisch: Kaum ist der Markt verlaufen, fällt John ein, dass er Dir eigentlich helfen sollte.
Aber es war nicht John, dem ich in die Arme lief. Sondern Ryan.
„Hey“, sagte er, „ich dachte, ich schau mal, wo Du bleibst.“
Was für eine Begrüßung. Wo ich die ganze Zeit über steckte, war ja nicht schwer zu erraten. Wo sollte ich auch sonst schon sein! Mehr noch als seine falsche, aufgesetzte Fürsorglichkeit ärgerte mich, dass er so tat, als wüsste er von nichts.
„Schätze, Du darfst jetzt den Rest des Abends den Laden von hier unten aus am Laufen halten.“
Ja, reib noch tüchtig Salz in die Wunde, Sherlock! dachte ich, Clever kombiniert, dank Deines genialen Einfalls…
„Ach, echt? Da wäre ich ja nie von selbst drauf gekommen, und ich schätze, Du würdest mir nur allzu gern dabei Gesellschaft leisten“, hörte ich mich sagen. Die Extraportion Zickigkeit – mehr Ironie ging nicht.
„Aber ich fürchte, daraus wird nichts. Ich bin erstens nicht zum Spaß und zweitens nicht alleine hier.“
Das und die Anspielung auf meinen Partner würden ihm hoffentlich ein Dämpfer sein, aber er dachte gar nicht daran, denn er rückte bedenklich näher.
„So, so, Du fürchtest….“
Au weia, so wie er dieses Verb betonte, schwante mir nichts Gutes. Das hatte ich nun davon, dass ich einfachste Floskeln der Höflichkeit von mir gab. Jetzt erweckte ich auch noch den Eindruck, dass ich es bedauerte, ihn so bald schon wieder verlassen zu müssen, obwohl ich mich gerne noch länger mit ihm unterhalten hätte.
Na, das läuft ja heute wieder super, Andrea, höhnte ich in Gedanken. Das ist doch genau das, was Du zum Abschluss eines gelungenen Tages noch gebraucht hast.
„Aber was das ’nicht alleine hier‘ angeht – falls Du Mike suchst, der ist verschwunden. Mit Lee. Und so, wie ich ihn kenne, kann das länger dauern.“ fuhr Ryan fort.
Jeder Schuss ein Treffer, jeder Satz eine Detonation: Für einen Augenblick war ich dankbar, dass er in dem sparsamen Licht meinen entgeisterten Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, denn jeder einzelne seiner genüsslich plazierten Sätze ließ vor meinen Augen ein Bild entstehen, das mir ganz und gar nicht gefiel.
Mit Lee. Das kann länger dauern. Am besten verdrängte ich es ganz schnell, bevor es sich endgültig in meinem Kopf einnistete. Doch schon seine nächsten Worte machten dieses Vorhaben zunichte.
„Aber noch besser kenne ich sie, glaub mir. Wir waren zwar nur kurz zusammen, aber ich weiß, wie sie tickt…“
Pass auf, dass er sich nicht zwischen euch drängt. Ich weiß, wie sie tickt…
Da waren sie wieder: einzelne Sätze von verschiedenen Leuten, die zur falschen Zeit aus der Erinnerung auftauchten und sich wunderbar dazu eigneten, mich in den Wahnsinn zu treiben, auch ohne Ryans Mutmaßungen. Ich wusste nur eines: Raus hier und zwar schnell! Die Tasche mit dem Werkzeug donnerte zu Boden, und ich drängte ihn zur Seite, schneller als er ‚piep‘ sagen konnte.
Oben angekommen, sah ich erst mal… nichts. Dann erspähte ich Lee inmitten der kostümierten Menge, am anderen Ende des Saals, in der hintersten Ecke, damit auch ja niemand mitbekam, wie innig sie und Mike sich umarmten. Ja, alle außer mir.
♪ all those stars that shine upon you will kiss you every night ♪
Dass sie sich küssten, war unausweichlich. Der Text des Songs, der gerade durch den Saal dröhnte, war purer Hohn.
Entspannt konnte ich bei diesem Anblick nun wirklich nicht mehr bleiben; das Gegenteil war der Fall. Statt funkelnder Sterne sah ich rot. Von wegen „Wie schön, dass Du nicht eifersüchtig bist“ – oh, wie schlecht mich John doch kannte. Wenn es etwas gab, das ich überhaupt nicht ausstehen konnte, dann war, wenn man mich unterschätzte und für dumm verkaufen wollte.
Pass auf, dass er sich nicht zwischen euch drängt? Im Moment sah ich nur eine Person, die sich zwischen Mike und mich zu drängen versuchte, und die hieß nicht Ryan.
Wir waren zwar nur kurz zusammen, aber ich weiß, wie sie tickt.
Tick-Tock! Was hier tickte, war die sorgfältig gelegte Zeitbombe, jederzeit bereit zum Hochgehen. So langsam wurde das Bild klarer. Lee hatte ihren Freund damals ja wirklich schön verarscht. Und alle anderen gleich mit. Nicht Danny hatte damals etwas mit Lee am Laufen gehabt, sondern Ryan.
Deshalb hatte er auch so komisch reagiert, als sich herausgestellt hatte, dass der Deal mit Spirit Chase Records nur mit Lee zustande kommen würde. In diesem Moment war es mir völlig egal, von wem der beiden damals die Initiative ausgegangen war, aber genau jetzt waren sie und Mike… oh nein, dieses Bild wollte ich mir nicht vorstellen. Aber das brauchte ich auch gar nicht. Was ich sah, war eindeutig.
♪ eternally wild with power to make every moment come alive ♪
Wild with power? Zorn wallte in mir auf. Wenn die Flamme der Eifersucht außer Kontrolle gerät, werden ungeahnte Kräfte wach.
Wenn er das mit Euch beiden vermasselt, ziehe ich ihm die Ohren lang.
So viel zu Johns Rede von vorhin. Dass er seinem besten Freund kräftig einheizen würde, wenn er Mike und Lee auf frischer Tat ertappte, stand außer Frage. Aber dazu würde es nicht kommen, denn das würde ich nun tun. Und zwar jetzt.
Ein Tablett mit Tequila Shots wanderte an mir vorüber. Ich griff mir einen und trank ihn auf ex. Vorbei waren alle guten Vorsätze, bei nur einem Bier zu bleiben, so lange ich von Lee auf Ryans Vorschlag hin als Ersatz für den abwesenden Hausmeister fungierte.
Glaubst Du, ich habe Dich nicht durchschaut? Mich aus dem Weg zu bekommen, um bei ihm freie Bahn zu haben?
Doch damit war jetzt Schluss. Noch einen weiteren, und es konnte losgehen. Doch noch bevor ich mich in Bewegung setzen konnte, hatte mich Ryan eingeholt und hielt mich zurück.
„Und, glaubst Du mir es jetzt?“ stieß er hervor, gerade so laut, dass ich ihn hören konnte, es aber von den Umstehenden niemand mitbekam. Fehlte nur noch das selbstgefällige ‚Habe ich es Dir nicht gleich gesagt‘, das ich so hasste.
Wenn ich erst mal in Rage war, brauchte ich nicht auch noch einen Oberlehrer, der Öl ins Feuer goss oder mich noch weiter die Palme hinauftrieb. Doch genau das tat Ryan jetzt.
„Komm schon, Andrea, Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass Dein Mike Dir ewig treu sein wird!“
Doch. Doch, genau das hatte ich geglaubt. Obwohl ich es hätte besser wissen müssen. Words are weapons, sharper than knives… vor allem, wenn sie in Form von rhetorischen Statements daherkommen, die mir signalisieren sollen, wie naiv – nein – dämlich ich doch gewesen war.
Nur Gutgläubige oder Traumtänzer klammern aus, dass wir alle früher oder später in unsere alten Gewohnheiten zurückfallen. So unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden, und dann auch noch ausgerechnet von Ryan, war wie eine kalte Dusche. Ich musste mich korrigieren: das waren keine ungeahnten Kräfte, die in mir wach wurden, sondern Rachefantasien, angefangen bei dem ins Gesicht gekippten Drink bis hin zur Indian, die meiner Zerstörungswut zum Opfer fiel.
Anstatt den Abend mit mir zu verbringen, hatte er es vorgezogen, nicht nur mir aus dem Weg zu gehen, sondern sich obendrein auch noch auf einen Flirt mit Lee einzulassen, der über das normale Maß hinausging.
Hier lag eindeutig mehr in der Luft, denn nach einem Ziehen der Notbremse sah mir das hier nicht aus. Und nachdem, wie lange er sich schon mit ihr in dieser schummrigen Ecke herumdrückte, ging ich nicht davon aus, dass er erkannte oder erkennen wollte, wohin die Reise ging. Sich einmal dumm gestellt, hilft Dir durchs ganze Leben? Wohl eher nicht!
Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war die Flasche in seiner Hand nicht sein erster Drink an diesem Abend gewesen, und auch bestimmt nicht sein letzter.
Hör auf, ihn als armes Opfer zu sehen, das von Lee ausgenutzt wird, er weiß selbst sehr gut, was er tut, oder müsste es zumindest wissen. Selbst wenn er sich mit voller Absicht die Kante gibt, macht es das Ganze nicht besser.
Von wegen Seitensprung im Suff. Alles faule Ausreden. Anstatt sich volllaufen zu lassen oder ziellos durch die Gegend zu fahren, hätte er nach dem Familiendrama auch zu mir kommen können. Aber wenn er nicht wollte…. fein, seine Sache! Kann man machen, aber ein Vertrauensbeweis oder gar ein Zeichen der Zuneigung war das nicht.
Da konnte er noch so oft beteuern, wie sehr er mich liebte. Aber mich einfach außen vor zu lassen, wenn es wirklich schlimm wurde, zeigte mir etwas anderes. Ihm die Hölle heiß zu machen und ihn vor allen zur Rede zu stellen, lag zwar nahe und war für Mike bestimmt unangenehm, aber als Denkzettel vermutlich nicht geeignet, denn am Ende fiel eine solche Szene, vor allem vor anderen, womöglich noch auf mich zurück.
♪ the devil inside, the devil inside, every single one of us the devil inside ♪
The devil inside? Oh ja, Lee würde es genießen, wenn ich als hysterische Bitch dastand. Nein, um ihn wirklich aus der Fassung zu bringen, bedurfte es einer wirkungsvolleren Methode.
Dass teuflische Ideen, angeheizt durch Tequila Shots, nicht gerade die besten sind, blendete ich in diesem Augenblick vollkommen aus – frei nach dem Motto „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“ Aber hinterher ist man ja immer schlauer. Mein Beinahe-Ausrutscher mit Ryan nach dem Billardturnier hätte mir eine Lehre sein sollen. Statt dessen zeigten die Drinks, mit denen ich mir Mut hatte antrinken wollen, ihre fatale Wirkung, indem ich meine damalige „Heldentat“ unter Einfluss von Caol Ila kurzerhand zum Grundstein für jene Racheaktion erklärte, die ich später bitter bereuen sollte.
Angetrieben von Eifersucht und beflügelt von den beiden Kurzen, ließ ich mich von Ryan einwickeln, der der Meinung war, dass das jetzt doch genau die perfekte Gelegenheit wäre, es Lee und Mike so richtig heimzuzahlen, und zwar mit ihm. Wie Du mir, so ich Dir? Warum eigentlich nicht? Schließlich hatte ich ihn ja schon einmal benutzt, um Mike eifersüchtig zu machen. Wie leicht es mir doch gefallen war, ihm eine Komödie vorzuspielen… die dann doch anders verlaufen war.
„Ich lass mich auch gerne ein zweites Mal von Dir benutzen, Baby“, flüsterte er mir ins Ohr und rückte so dicht an mich heran, dass zwischen uns keine Luft mehr passte. „Aber diesmal richtig!“
Aber diesmal richtig? Im nüchternen Zustand hätte ich ihm für diese eindeutige und dreiste Anmache eine geschmiert und mich gleichzeitig gefragt, woher dieser Sinneswandel so plötzlich kam, wenn ich an seine Reaktion auf dem Parkplatz dachte, nachdem ich ihn unsanft über seine wahre Rolle nach unserem verhängnisvollen Billardturnier aufgeklärt hatte.
Leider hatte aber mein Urteilsvermögen Pause, und so ließ ich mich auf das von ihm vorgeschlagene Spielchen ein. Allein die Genugtuung, dass Mike die Show, die wir ihm liefern würden, bis aufs Blut reizen würde… mehr als eine Show war es für mich im Grunde nicht. Und weiter als bis zu diesem Punkt dachte ich nicht. Einer der Fehler, die ich heute am liebsten rückgängig machen würde. Aber wie heißt es so schön? You can’t turn back the time.
„So so, alles nur Show?“ Anscheinend sah Ryan das anders als ich, aber das war mir in meinem aufgebrachten Zustand egal. „Bist Du Dir da wirklich so sicher?“
Stell keine Fragen und halt die Klappe, bevor ich’s mir noch anders überlege, dachte ich, so weit meine Gehirnzellen dazu noch fähig waren. Aber zu glauben, dass sich unsere Vorstellung für die beiden direkt vor ihren Augen abspielen würde, war ein Irrtum. Mein Sparringspartner bevorzugte eine abgeschiedenere Ecke, und ehe ich mich versah, zog er mich in eine Nische, wo wir uns leidenschaftlich umarmten.
„Wenn Du wüsstest, wie lange ich darauf schon gewartet habe, Baby“, flüsterte er mit heiserer Stimme, dicht an meinem Ohr.
Sein Atem in meinem Nacken ließ meinen Puls rasen, seine Berührungen brachten meine Haut zum Glühen, und mir wurde schwindelig. Die Schuld des Tequilas war das nicht: Es war nicht der Tequila, der mich hochhob, auf einem Mauervorsprung absetzte und sich an mich drängte, und es war auch nicht der Tequila, der säuselte, wie verdammt sexy er mich fand und dass er mich jetzt endlich da hatte, wo er mich schon seit jenem Abend hatte haben wollen.
Der Abend, an dem ich versucht hatte, Steve wiederzubeleben. So weit kam ich noch mit, aber das Denken fiel mir mit jedem seiner Atemzüge auf meiner Haut zunehmend schwerer. Die in mir aufsteigende Hitze kam nicht vom Tequila allein.
„Ich wusste, ich bin Dir nicht egal“, flüsterte er. „sonst hättest Du mich nicht gewarnt, als ich nach dem Konzert…“
Bilde Dir mal nicht zu viel ein, meldete sich meine innere Stimme, aber inzwischen war ich viel zu sehr in Fahrt, um darauf das Passende zu erwidern. Jeden anderen hätte ich genauso versucht, aus der Schusslinie zu bringen. Aber meine Lippen blieben stumm und küssten ihn statt dessen noch leidenschaftlicher zurück.
„Oh Mann, Du fühlst Dich so gut an, Baby… Du treibst mich noch in den Wahnsinn…“
Zwei Dumme, ein Gedanke. Mir ging es da nicht anders, und ja – Wahnsinn war das richtige Wort. Ich hatte eindeutig nicht mehr alle Sinne beisammen. Denn sonst wären meine Hände nicht unter sein Shirt und seinen Rücken hinauf gewandert.
Statt dessen hatte ich das, was man Tunnelblick nennt: Konzentration auf einen Punkt; alles andere ist Nebensache. Auch wenn es vermutlich ein Fehler war. Lass uns abhauen, bevor noch ein Unglück passiert, rumorte es in mir, lange halte ich das hier nicht mehr aus. So gemütlich war dieses Gemäuer nämlich wirklich nicht. Warum gehen wir nicht zu…
Der Gedanke brach so plötzlich ab, wie er gekommen war. Die klassische Frage, wer zu wem, verpuffte in Bruchteilen von Sekunden.
Erwischt! Mayday! funkte statt dessen mein Hirn.
Erschrocken machte ich einen Satz von ihm weg: Keiner von uns beiden hatte die Schritte tatsächlich wahrgenommen, bis sie vor uns zum Stillstand kamen. Mit einem Schlag war ich nüchtern und bei vollem Bewusstsein.
„Sag, dass das nicht wahr ist!“
Johns fassungsloses Gesicht und seine ungläubigen Blicke, die zwischen Ryan und mir hin und her sprangen, werde ich nie vergessen. Was sollte ich darauf auch antworten? Nun war es zu spät, der Schaden angerichtet und Leugnen zwecklos. Dazu war die Situation zu eindeutig: ausgerechnet mich mit einem seiner Kollegen zu erwischen. Mich… Und dann auch noch mit Ryan!
Wie hatte er mir doch vorhin noch in den höchsten Tönen vorgeschwärmt, für welch ein tolles Paar er Mike und mich doch hielt. So viel zum Thema „vermasseln“ und „die Ohren langziehen“. Das Vergeigen hätte er eher seinem besten Freund zugetraut, und nun war es genau anders herum.
Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben, und bei dem Blick, den er mir zuwarf, wurde mir eiskalt, während ich innerlich vor Scham und Aufruhr glühte. Wie schlimm konnte es noch werden?
Sag jetzt nichts, flehte ich stumm und hoffte, dass sich Ryan wenigstens jetzt und mir zuliebe zurücknehmen würde, aber da hatte ich zu viel erwartet. Während ich wie gelähmt mitten im Gang stand und noch nach den richtigen Worten suchte, obwohl ich genau wusste, dass es die nicht gab, konnte es Ryan nicht lassen. Eine peinliche Situation wird nicht dadurch entschärft, wenn einer der Beteiligten der Ansicht ist, dass Frechheit siegt.
„Nach was sieht’s denn Deiner Meinung nach aus, Johnny-Boy?“
An Johns Stelle hätte ich Ryan schon allein für diese Anrede gekillt, aber der rang noch immer um Fassung. Das beste wäre gewesen, wir hätten uns ohne großes Aufhebens in alle Winde zerstreut, aber Ryan musste ja unbedingt noch einen draufsetzen.
Nein, Mr. Miller, niemand findet es in so einer Situation besonders hilfreich, wenn Sie verkünden, dass die liebe Andie zur Abwechslung mal mit jemandem Spaß haben will, der ihr zeigt, wo’s lang geht. Sonst hätte sie sich ja nicht so schnell auf Sie eingelassen. Wie hatte Sue noch so schön gesagt?
Wenn er seine Felle wegschwimmen sieht, zeigt er seinen wahren Charakter. Oder war es Madlyn gewesen? Auch egal; für einen Gentleman hatte ich Ryan noch nie gehalten, aber das schlug echt dem Fass den Boden aus. Wie hatte ich nur so blöd sein können? Der nächste klare Moment folgte auf dem Fuße, denn dass die aus einem Moment der Eifersucht geborene Idee schwachsinnig von A bis Z war, ging mir im nächsten Augenblick auf, als Mike um die Ecke kam und wie angewurzelt vor uns dreien stehenblieb.
Dabei hatte ich mir das Ganze in der Theorie so einfach vorgestellt: Wie Du mir, so ich Dir. Leider sah die Praxis anders aus.
„Was, zum…“ entfuhr es ihm.
Zu erraten, was hier los war, konnte er sich bei meinem verzweifelten Versuch, meine außer Kontrolle geratene Kleidung wieder in Ordnung zu bringen, problemlos zusammenreimen. Damit war er schon einen Schritt weiter als John, der seinen Augen anscheinend noch immer nicht trauen wollte.
Zeitlupe reloaded: Während John Ryan angewidert anschaute und der nur hämisch grinste, nahm mich Mike mit einem Blick ins Visier, bei dem ich nichts Gutes ahnte. Diesen Blick hatte ich zuletzt am Mittag an ihm gesehen, als er seinen Vater zum Teufel gewünscht hatte.
„Wie konntest Du nur?!“ schleuderte er mir entgegen, während ich noch immer nervös an meinen Klamotten nestelte. „Und ausgerechnet mit ihm????!“
Auf die anderen konnte ich nicht zählen, auf keinen von ihnen. Im Gegenteil. Als ich sah, wie gelassen sich Ryan an die Wand lehnte und süffisant lächelte, während er nach meiner Hand griff, fiel mir plötzlich einer seiner Sprüche ein, dem ich damals keine Bedeutung zugemessen hatte.
Manchen Leuten kannst Du echt alles erzählen: Wenn Du nur überzeugend genug auftrittst, glauben sie Dir alles.
Anscheinend zählte ich für ihn ebenfalls zu jenen Leuten. Wie hatte ich nur auf ihn und seine Manipulationsversuche hereinfallen können? Nur wenige Minuten im Rausch hatten genügt, um das, was Mike und mich jemals verbunden hatte, zu zerstören. Zu retten gab es nichts mehr – diese Erkenntnis in seinen Augen zu sehen, nahm mir die Luft zum Atmen.
Zu erleben, wie er mit kreidebleichem Gesicht wie in Zeitlupe vor mir zurückwich, war zu viel. Sterne tanzten vor meinen Augen. Mikes Schockstarre, Johns vorwurfsvolles Gesicht… Ich musste raus, und zwar so schnell wie möglich. Die Schadenfreude auf Ryans Gesicht brachte das Fass zum Überlaufen.
„Wag es ja nicht“, fauchte ich ihn an und entriss ihm meine Hand. Er war für mich gestorben, und so wie es aussah, war ich das auch für Mike.
„Ihr beide seid echt das Letzte!“
Die Verachtung, mit der er mich ansah und seine Worte ausspie, gab mir den Rest. Ihm jetzt noch etwas erklären zu wollen, war sinnlos. Ich war eine Fremde für ihn. Mit brennenden Wangen drehte ich mich auf dem Absatz um und stürzte blindlings ins Freie.
Lauf, Andrea, lauf! schrie alles in mir… Weg von hier, egal wohin. Hauptsache nur weg von hier, lauf am besten ganz weit weg von hier. Und komm nicht mehr zurück…
Ohne Ziel rannte ich in die Nacht hinein. Meine Umgebung nahm ich kaum wahr. Das Licht der Straßenlaternen verschwamm zu diffusen Flecken, die einzigen Geräusche, die ich deutlich hören konnte, waren die meiner Absätze, als ich wie mechanisch immer weiter lief. Mir war gleich, ob ich jemanden bei meiner kopflosen Flucht streifte.
Was man mir hinterher rief, verstand ich nicht, und es kümmerte mich auch nicht. Ich drehte mich nicht um. Auch nicht, als ich auf die Fahrbahn stolperte und jemand entsetzt aufschrie. Hände griffen nach mir, Reifen quietschten, es gab einen dumpfen Schlag und um mich herum wurde es endgültig tiefste Nacht.
Eine heulende Sirene begleitete die Dämmerung, gelb-rot flackerndes Licht. Zitternd und stöhnend vor Schmerz, schlug ich die Augen auf und erblickte in meinem Arm den Schlauch, der zu einer Infusionsflasche führte.