Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (10)

So, rechtzeitig auf den letzten Drücker vor meiner kommenden Sommerpause, folgt hier das zehnte und zwischenzeitlich letzte von meinen veröffentlichten Kapiteln. Der Plan, wie es weitergehen soll steht, doch die Sätze sind noch nicht geschrieben…

(zuerst veröffentlicht am 06.02.2023 auf Wattpad)

Kapitel 10 : The policy of truth

… die Frau Holle führte sie auch zu dem Tor …

Das gibt’s doch nicht, murmelte ich und rieb mir zutiefst verwirrt die Augen. Ich musste zweimal hinsehen und mich selbst in den Arm kneifen, doch das vermeintliche Trugbild von dem Kerl in der Ecke, der hochkonzentriert über einem Korb voller Federn brütete, hielt diesem Test stand.

Meine Tochter kann Stroh zu Gold spinnen, kam mir unwillkürlich die alte Mär vom König und der Müllerstochter in den Sinn, die Marie und ich als kleine Kinder immer vorm Einschlafen vorgelesen bekommen hatten. Stroh zu Gold spinnen? Mach Sachen! Also gab es doch Leute, die das konnten. Nur dass es in diesem Fall Federn waren und vor mir kein verschlagenes Hutzelmännchen saß, sondern ein junger Mann. Blond und von angenehmer Erscheinung, musterte er mich genauso verblüfft wie ich ihn. Komisch, das Rumpelstilzchen hatte ich mir immer anders vorgestellt. Den Goldjungen nach seinem Namen zu fragen, hatte unter diesen Voraussetzungen wohl keinen Sinn, und doch war es das erste, das meinem Mund entfleuchte. Nach diesem Stich ins Wespennest kam nichts – für gefühlte fünf Minuten.

Dann ein Stottern.

„M-M-M-Midas. Nennt mich… nennt mich einfach Midas.“

Midas. König Midas? Einen besonders königlichen Eindruck machte mein Gegenüber in seinen abgetragenen Klamotten nicht gerade, und dennoch musterte er mich von oben herab, soweit das im Sitzen überhaupt möglich war.

„Seh ich so aus, als ob ich mit dem irgendwas zu tun habe?“

Upsi, da war aber jemand angepisst. Und anscheinend auch in der Lage, Gedanken zu lesen, und besonders meine – die ich von nun an besser unter Verschluss hielt, wenn ich nicht ein zweites Mal sprachlos zurückbleiben wollte. Jetzt bloß nicht den Kopf verlieren, oder gar die Fassung – seine eigene hatte er erstaunlich schnell wiedergefunden.

„Aha – Midas also…“, gab ich zurück und betonte seinen Namen so, als ob ich dem blonden Bürschchen vor mir nicht traute. Midas – wenn das sein echter Name war, dann fraß ich einen Besen. Irgendwas hatte er zu verbergen. Aber was? Na, dann wollen wir dir mal auf den Zahn fühlen, fasste ich mir ein Herz, bevor ich fortfuhr. „… nicht mit dem König verwandt. So so…“

Mein so so ließ ich mit einem ironischen Unterton bewusst in der Luft hängen, um eine Reaktion aus ihm herauszukitzeln. Und die kam schneller als erwartet.

„So weit kommt’s noch!“ erwiderte er empört und sprang mit rotem Gesicht von seinem Hocker auf, dass die Federn in dem Korb vor ihm nur so durch die Luft wirbelten. Upsi, falsche Ansage. Hier war aber jemand auf den König gar nicht gut zu sprechen. Aber warum bloß? Etwas schien den armen Kerl zu triggern, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was das war, wo doch alle nur Gutes über den König zu berichten wussten.

„Nur Gutes?!“ entrüstete sich Midas. „Der Witz war gut. Wegen dem sitze ich doch überhaupt erst hier!“

So langsam gab seine Reaktion einen Sinn. Aber wenn er etwas angestellt hatte, hätte er dann nicht in den Kerkern des königlichen Palasts sitzen müssen anstatt in einem Verlies bei Frau Holle? Es sei denn, Frau Holle diente der Justiz als verlängerter Arm. Vielleicht hatte ihn Frau Holle ja auch bei seiner Flucht aufgegriffen und hielt ihn so lange fest, bis die Schergen des Königs eingetroffen waren. Die Geschichte wurde immer verworrener.

„Ach, und seit wann?“ wollte ich wissen. Viel Zeit konnte er bei seinem sanft gebräunten Teint hier unten nicht verbracht haben. Aber ganz gleich, wie lange er hier schon saß, der Gedanke, dass es doch jemanden geben musste, dem er fehlte, führte mich zu meiner nächsten Frage. „Und deine Eltern… was ist mit denen? Die machen sich doch bestimmt schon Sorgen.“

„Meine Eltern?“ kam es über meine Lippen. „Frag besser nicht. Und vergiss auch gleich ganz, was du hier gesehen hast. Denn das ist eine lange Geschichte, und für die fehlt dir die Zeit.“

Zeit, die mir fehlte? Verflixt nochmal, so langsam wurde mir dieser Midas und seine Fähigkeit, Gedanken zu lesen, unheimlich. Auch wenn er recht hatte, würde ich mir trotzdem die Zeit nehmen, und wenn es bis zum Abend dauerte.

„Na gut, du hast es so gewollt“, hallte Midas‘ Stimme eine halbe Oktave tiefer durch das Gewölbe. „Aber versprich mir eins: Frag mich nicht nach meinem Vater.“

„Hä? Wieso das denn?“

„Weil ich versprechen musste, seinen Namen nicht mehr zu nennen. Egal wem.“

Ja, waren wir denn hier bei Harry Potter? Doch weiter als bis zu einem verwirrt klingenden Aber kam ich nicht.

„Ich sag nur eins: Heute back ich, morgen brau ich.“

Ja, nee is klar: vor mir saß Rumpelstilzchens Sohn? Nicht dein Ernst, sperrte ich mich gegen das, was mir Midas da gerade auftischte: Durch einen Fehler im Zeugenschutzprogramm hatte er nicht in einer Waldhütte Unterschlupf gefunden, sondern bei Frau Holle?  Bei einer Schwindlerin, die seine Gabe, Dinge in Gold zu verwandeln, erkannt hatte und ihren Gefangenen nun zu ihrem eigenen Vorteil auszubeuten? Irgendwann würde die Seifenblase platzen, davon war ich überzeugt. Doch Midas war nicht zu bremsen.

„Ich sag’s dir, der Kerl geht über Leichen. Oder warum hat er mich im ganzen Land suchen lassen, nachdem Malefiz…“

„Stop, jetzt mal ganz langsam und zum Mitschreiben. Rumpelstilzchen ist also dein Vater, der eigentlich nur auf Erfüllung seines Vertrags mit der Königin bestanden hat, damit diese…“

Moment mal, dann war ja die Königin seine Mutter. Die ganze Story erschien mir immer unglaubwürdiger. Und wer zum Henker war Malefiz?

„Ja, was glaubst du denn, was die beiden in der Kammer getrieben haben, während sich das ganze Stroh in Gold verwandelt hat? Mikado gespielt?“

Wer sich bewegt, hat schon verloren? Nein, dieses Kopfkino brauchte ich nun wirklich nicht, doch glücklicherweise ging Midas nicht näher darauf ein. Statt dessen klärte er mich über Malefiz‘ Identität und ihre Rolle in dieser Seifenoper auf.

Drei Tage hatte der Kindsvater seiner Süßen gegeben, um den Schwindel aufzudecken und die Karten offen auf den Tisch zu legen, doch dann war er unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs geworden und hatte das wahre Gesicht des Königs erkannt. Und so hatte das junge Paar innerhalb dreier Tage einen riskanten Plan geschmiedet, bei dem Malefiz ins Spiel kam. Um ihr Unrecht gutzumachen, das sich die 13. Fee damals bei Dornröschen mit dem abgemilderten Todesfluch geleistet hatte, war sie jemandem noch eine gute Tat schuldig gewesen. Und die hatte in der gemeinsamen Flucht Rumpelstilzchens mit seiner Geliebten und dem gemeinsamen Kind bestanden– nach einem spektakulären Abgang.

Ein anderer hätte wahrscheinlich längst dem König den eigenen Spross untergejubelt und sich danach auf Nimmerwiedersehen empfohlen. Aber da kannte Malefiz den Vater des kleinen Midas schlecht! Niemals durfte der Knirps zu einem solchen Monster heranwachsen wie der König eines war. Bedroht die künftige Mutter seiner Kinder mit dem Tod, wenn sie es nicht fertigbrachte, Stroh zu Gold spinnen.

Aber das hatten wir schon. Also spielten sie aller Welt die Komödie mit der verzweifelten Suche nach dem Namen vor, genau wie die Aktion mit dem Zerreißen, übertüncht von einer gewaltigen Rauch- und Glimmerwolke, hinter der Malefiz und Kleinfamilie verschwanden.

Das einzige, was wirklich zerriss, und das auch nur beinahe, waren die Herzen der Kindsmutter und Rumpelstilzchens, als sie von dem kleinen Midas Abschied nehmen und ihn in der Obhut Frau Holles zurücklassen mussten.

A propos Frau Holle. Kam es mir nur so vor, oder hatten Midas und ich die Zeit vergessen? Als ob ein Igor einen unsichtbaren Schalter umgelegt hätte, ging plötzlich ein Ruck durch die feingliedrige Gestalt des jungen Mannes und seine Blicke huschten unruhig umher.

„Ich höre sie kommen“, unterbrach er flüsternd seine Erzählung, wie seine magischen Fähigkeiten ans Licht gekommen waren. „Frau Holle! Du musst hier weg“.

Weg von hier, und ohne ihn? Nach all dem, was ich über Frau Holle soeben erfahren hatte? Nicht nur, dass das viele Gold nicht echt war. Sollte der Schwindel auffliegen, wäre sie wegen Falschmünzerei dran. Außerdem würden sich sich als Schandtaten nun auch noch das Ausnutzen einer Notsituation, Freiheitsberaubung, Kinderarbeit und das Anstiften zu einer Straftat hinzu gesellen. Was jammerte ich da noch über mein ach so schlimmes Schicksal, und das seit Tagen? Hier war jemand, der wie ein Sklave gehalten und wie der letzte Dreck behandelt wurde. Den jungen Midas hier zurücklassen, brachte ich nun wirklich nicht übers Herz.

„Wir müssen fort!“ war das erstbeste, das mir einfiel. Ja, wir mussten fort. Vergessen war das Gold. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.

Fortsetzung folgt …

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (9)

(zuerst veröffentlicht am 04.02.2023 auf Wattpad)

Kapitel 9 : Enjoy the silence

Das ward die Frau Holle bald müde und sagte ihr den Dienst auf. Die Faule war das wohl zufrieden und meinte, nun würde der Goldregen kommen.

Der Hunger treibt’s rein, die Gier treibt’s runter und der Geiz behält’s drin.

Ausgehungert wie ein Bär nach dem Winterschlaf, stürzte ich mich auf den süßen Brei, den Frau Holles Töpfchen gekocht hatte, und schlang ihn hastig hinunter. Schon wenige Löffel genügten, um in mir einen beunruhigenden Gedanken aufkeimen zu lassen: Sollte ich das jetzt jeden Tag essen? Immer nur Brei, niemals etwas anderes? Nicht mal ein Stück Brot oder einen Apfel? Na Mahlzeit. Eine abwechslungsreiche Ernährung sah anders aus. Vor allem machte das mir vorgesetzte Gericht eines nicht: satt, egal wie groß die Portion war.

So wenig appetitlich die Vorstellung auch war, hätte ich am liebsten immer weiter gegessen, doch irgendwann war auch die längste Mittagspause vorbei. So begab es sich, dass ich am frühen Nachmittag im nächsten Kellerraum weiter vor mich hin werkelte und dabei versuchte, das schleichende Rebellieren meines Magens zu ignorieren. Dabei wusste ich doch längst, dass dieser Versuch von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Nicht mehr lange, und das immer schlechter zu unterdrückende Geräusch würde durch das gesamte Kellergeschoss hallen wie das Knurren eines Wolfs kurz vor dem Angriff. Und tatsächlich, hörte ich bald schon nichts anderes mehr. Das Knarzen schien aus jeder Ecke und jeder Wand zu kommen, sogar aus den Gängen des Kellerlabyrinths. Sieh zu, dass du dir schnellstmöglich einen Snack für zwischendurch organisierst, sprach ich zu mir selbst ins flackernde Licht hinein und erhob mich seufzend. Zum Aufbruch bereit, wollte ich die Tür gerade mehr als nur einen Spalt breit öffnen, als ich spürte, wie draußen etwas vorbei huschte.

Hatte Frau Holle nicht beim Mittagessen noch gesagt, sie hätte für den Rest des Tages im Garten zu tun? Das kam mir doch mehr als merkwürdig vor. Dieser Sache musste ich auf den Grund gehen, und plötzlich hatte ich meinen rumorenden Magen vergessen.

Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich in den nächsten Schatten flüchten, als ich den Schatten Frau Holles fülliger Gestalt auf mich zukommen sah. Was auch immer sie hier unten zu erledigen gehabt hatte, es würde wohl gar nicht gut bei ihr ankommen, wenn sie mich beim Spionieren erwischte. Klar, es war ihr Haus, besser gesagt Palast, und damit hatte sie das Hausrecht, dennoch hätte ich zu gerne gewusst, weshalb sie nicht mit offenen Karten spielte. Ich war zwar auch nicht gerade ein Ausbund an Offenheit, aber nachdem Marie sie dermaßen in den Himmel gehoben hatte, war ich mit völlig falschen Vorstellungen in ihre Dienste getreten. Entweder hatte Marie uns nach Leibeskräften angeschmiert oder Frau Holle hatte ihr erfolgreich Sand in die Augen gestreut; und wie es aussah, traf das Zweite zu.

Das Doppelleben der Frau Holle: Im Geiste zählte ich bis dreißig und wartete zur Sicherheit ab, bis nicht nur ihre Schritte verklungen waren, sondern es im Keller totenstill und bis auf das leise Scharren kleiner Krallen irgendwo in der Ferne nichts mehr zu hören war. Dann wagte ich mich aus meinem Versteck und hielt die Lampe dicht über den Boden. Zuerst sah alles ganz normal und unverdächtig aus, doch dann erblickte ich eine Feder in einem zarten Roséton. Eine? Nein, mehrere.

Merkwürdig… Frau Holle sollte nicht bemerkt haben, dass sie eine Spur aus Federn hinterlassen hatte? Und noch merkwürdiger, dass die Spur im Nichts zu enden schien; oder besser gesagt, vor der verbotenen Kammer. Vorsichtig sah ich mich um, bevor ich meine Wange gegen das Schloss presste, um durch das Schlüsselloch hinein zu spähen. Wie zu erwarten sah ich nichts. Wie auch, wenn die blöde Lampe mich blendete. Vielleicht half es, wenn ich die Flamme auf die kleinste Stufe hinunter dimmte. Aber auch so wurde ich nicht schlauer. So dunkel, wie es auf der anderen Seite der Tür war, musste ich wohl oder übel die Kammer des Schreckens betreten, wenn ich herausfinden wollte, was sich in ihr verbarg.

Und dass sich darin etwas befand, sagte mir mein Verstand, denn sonst hätte Frau Holle nicht so geheimnisvoll getan und mir den Zutritt verboten. Aber ganz ehrlich? Das war mir in diesem Moment sowas von egal. Im Gegenteil, redete ich mir erfolgreich ein, was war schon dabei, wenn ich mal ganz unverbindlich nachsah? Einfach nur mal einen Blick hinein zu werfen, was schadete das schon? Ich musste mich nur geschickt genug anstellen, damit Frau Holle keinen Verdacht schöpfte. Aber das würde warten müssen, denn ich war mit meiner Arbeit sowieso schon im Verzug.

Die Gelegenheit dazu kam schneller als erwartet. Am nächsten Morgen hatte mich Frau Holle schon früh geweckt, damit ich auch mehr als ausreichend Zeit hatte, um mein Tagewerk zu verrichten, wie sie sich geschwollen und auf altmodische Art ausdrückte. Hühnerfüttern, Federn einsammeln, wischen… das Übliche eben. Da sie einen wichtigen Termin außer Haus hatte, schärfte sie mir ein, gut auf das Töpfchen aufzupassen und darauf zu achten, dass es nicht überkochte. Aber ich solle mir keine Sorgen machen, wenn es später würde, es könne durchaus auch länger dauern.

Na, wenn das nicht genau die Chance war, auf die ich gewartet hatte!

Um keinen Verdacht zu erregen, tat ich jedoch ganz gelassen und versicherte meiner Herrin, dass ich auch ganz sicher jeder ihrer Aufgaben gewissenhaft nachkommen würde. Frau Holle würde stolz auf mich sein! Jedenfalls ließ ich sie in dem Glauben. Stolz auf mich sein? Das Brei kochende Töpfchen überwachen? Da lachten ja die Hühner! Das erste, was ich mir vornehmen würde, sobald sie das „traute Heim“ verlassen hatte, war das Töpfchen. Denn dazu hatte ich überhaupt keine Zeit. Außerdem würde das Blubbern nur meine Konzentration stören.

„Töpfchen steh!“ rief ich dann auch aus, sobald Frau Holle meiner Sicht entschwunden war. Herrlich, diese Stille!

Aber viel Zeit, sie zu genießen, gab ich mir nicht, jetzt musste ich zusehen, dass ich Gas gab. Also schnappte ich mir flugs den Korb, mit dem ich die eingesammelten Federn in den Keller transportierte. Ans Wischen verschwendete ich nicht mehr Zeit als nötig. Statt dessen ließ ich das Putzzeug im Treppenaufgang stehen, nur für den Fall, dass jemand aufkreuzte und meinen schönen Plan gefährdete. Dann würde das Gepolter des umgestoßenen Eimers mich warnen und mir Zeit zum Handeln verschaffen.

Wenn ich Pech hatte, war die Kammer verschlossen. Aber für den Fall hatte ich vorgesorgt. Bewaffnet mit einer Zange betrat ich den Raum, in dem ich das Altmetall für den Tinker sortiert hatte und zwackte mir ein Stück Draht aus dem Knäuel ab, von dem ich die Zinkwanne befreit hatte. Gespannt näherte ich mich mit diesem zurechtgestutzten Dietrich der Tür zur verbotenen Kammer. O Himmel, hilf, schickte ich ein leises Gebet nach oben, und verzeih mir, was ich gleich tun werde. Flehte ich tatsächlich um Beistand bei einer Straftat? Da konnte ich mir den Einbruch schönreden so viel ich wollte, insgeheim hatte ich kein gutes Gefühl dabei. Und das kam nicht davon, dass ich im Knacken von Schlössern keine Erfahrung hatte.

Jetzt das Bad Girl zu geben, sah mir nämlich so gar nicht ähnlich. Denn sich einfach nur vor nerviger Arbeit zu drücken, war das eine – doch etwas Verbotenes mit voller Absicht zu tun, stand auf einem anderen Blatt. Andererseits… zählte das Öffnen einer nicht abgeschlossenen Tür auch schon dazu? Vielleicht brauchte ich den Dietrich ja gar nicht, weil Frau Holle die Tür absichtlich offen gelassen hatte. Wozu hätte mir sonst den Zutritt untersagen müssen? Die Chance, dass letzteres zutraf, stand fifty-fifty.

Und tatsächlich ließ sich die Klinke ganz leicht herunterdrücken. So weit, so gut. Doch der eigentliche Knackpunkt kam jetzt: die Tür. Sie klemmte und ruckelte zwar ein wenig, bewegte sich aber trotzdem und gab den Blick ins Innere der Kammer frei, so wie ich es gehofft hatte. Wie ich mir schon gedacht hatte, stand in der Mitte des Raumes ein Korb, randvoll mit den Federn, deren Spur mich hierher geführt hatten. Am anderen Ende jedoch jemanden sitzen zu sehen, darauf war ich nicht gefasst.

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (8)

(zuerst veröffentlicht am 02.02.2023 auf Wattpad)

Kapitel 8 : Fear of the dark

Sie machte auch der Frau Holle das Bett nicht, wie sich’s gebührte, und schüttelte es nicht, daß die Federn aufflogen.

Raindrops keep falling on my head – aber nicht mit mir, musste meine Meisterin gedacht haben, als sie mir mit vorwurfsvollem Blick den leeren Eimer und schmutzigen Putzlappen abnahm und mich ohne Abendessen zu Bett schickte. Wenigstens musste ich nicht mehr wischen. Die Erleichterung hielt jedoch nur bis zum nächsten Morgen, als Frau Holle mich die Treppen hinunter scheuchte und mir zwei Petroleumlampen in die Hand drückte.

„Wie jetzt?“ gab ich entsetzt von mir, als ich erkannte, was sie vorhatte. „Ich dachte, ich muss nur jeden zweiten Tag putzen…“

„Denke nie, gedacht zu haben“, fiel sie mir auch sogleich ins Wort. „Und das Denken solltest du sowieso besser den Pferden überlassen“. Oh Mann, wie ich solche Sprüche hasste. Reichte es nicht, dass mir Tante Ursula damit auf den Zeiger ging? Und jetzt auch noch Frau Holle? Was für ein riesiger Spaß. Yay!

„Keine Sorge, mein Kind, es gibt noch genug zu tun. Oder hast du geglaubt, mit dem Bisschen Haushalt ist es getan?“

Ja, das hatte ich, wenn ich ehrlich war, und so, wie sie den letzten Satz betonte, schwante mir übles. Und tatsächlich, ausgerüstet mit einem Satz Lampen, führte sie mich immer tiefer in das weitverzweigte Gewölbelabyrinth hinein, vorbei an einer Reihe von Türen zu gut gefüllten Lagerräumen, die nur darauf warteten, von mir ausgemistet zu werden. In meinem Bemühen, mit Frau Holle Schritt zu halten, um den Anschluss nicht zu verlieren, hörte ich nur mit halbem Ohr hin und erschrak, als sie aus heiterem Himmel eine der vielen Kammern aufstieß und das Licht über einen Berg angesammelten Gerümpels huschen ließ.

Da hatte ich mir ja vielleicht eine Suppe eingebrockt. Mit meiner bei Muttern bewährten Taktik würde ich bei Holle nicht weit kommen, dafür aber direkt vom Regen in die Traufe.

Hatte ich vorher noch über die elende Schlepperei randvoller Eimer gestöhnt, so war es für mich jetzt noch dicker gekommen, denn diese neue Schikane schlug die vom Vortag um Längen. Jetzt hieß es nämlich für mich, anzupacken und den aufgehäuften Schrott für den nächsten Tinker zu sortieren, der bald schon mit seinem Pferdegespann vorbeikommen würde. Doch bevor ich loslegen konnte, schärfte mir Frau Holle eine letzte Regel ein, an die ich mich ohne Wenn und Aber zu halten hatte, ganz egal, was da kommen mochte: Unter gar keinen Umständen durfte ich jene eine Kammer am Ende des Ganges öffnen.

Damit war nach dem Pferch mit der Goldenen Gans dies jetzt schon der zweite Ort, der für mich tabu war. Fehlte nur noch, dass ich eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben sollte. Aber so weit musste Frau Holle gar nicht gehen. Ihr reichte schon mein Versprechen, dass ich um die Kammer einen großen Bogen machte und von der Tür meine Finger ließ.

Ausgestattet mit einer Handvoll Lampen, denn Licht konnte man nie genug haben, fand ich mich nur wenig später umgeben von kaputten Teppichklopfern, alten Rechen, Gießkannen und anderen ausrangierten und verrosteten Gartengeräten wieder. Allein schon bis ich mir einen Weg durch die aufgetürmten Berge an Altmetall gebahnt hatte, vergingen gefühlt Stunden, doch dann hatte ich so langsam ein System ausgetüftelt, mit der ich meine neue Aufgabe in absehbarer Zeit bewältigen würde. Jedenfalls dachte ich das, doch die Tücke lag im Objekt an sich.

Mein Gott, wie viele durchlöcherte Eimer und brüchige Weidenkörbe würden mir noch auflauern? Nahm denn diese Schinderei denn überhaupt kein Ende mehr? Mein Magen hing mir jetzt schon in den Kniekehlen, und dabei war noch nicht einmal Mittag. Wenn das so weiterging, würde es Abend werden, ohne dass ich auch nur eine Feder sortiert, geschweige denn aufgesammelt oder gar die Hühner gefüttert hätte, und dabei war ich mit dem ersten Kellerraum noch gar nicht durch. Nur noch dieses eine Stück… so dachte ich bei jedem neuen Teil, das mir unter die Finger kam, bis ich von noch mehr Stücken, die dahinter verborgen lagen, eines Besseren belehrt wurde. Kaum war eines weg, rückten andere nach.

Das war ja wie bei der berüchtigten Hydra, der auch jedes Mal zwei neue Köpfe nachwuchsen, wenn man ihr einen abschlug. Oder wie bei einem Oktopus, der einen mit seinen vielen Tentakeln von allen Seiten gleichzeitig umschlang und seine Beute nicht mehr losließ. Ach, hätte ich dumme Nuss doch besser mit dem vollen Eimer aufgepasst. Aber was jammerte ich schon wieder – es half ja doch nichts! Außerdem hasste ich es, wenn ich mich ständig wiederholte.

Oh ja, bitte, nur noch ein Stück, nur ein winziges Stückchen, nur ein… Nanu? Was war denn das? Der Griff, an dem ich gerade zog, gehörte zu einem Stück Metall, das sich anscheinend irgendwo verhakt hatte und das noch dazu alles andere als klein war. Na toll, jetzt konnte ich auch noch irgendwelche ineinander verhedderten Schnüre oder Drähte entwirren. Was hätte ich jetzt für einen Flammenwerfer gegeben, mit dem ich den ganzen Haufen am liebsten einfach eingeschmolzen hätte. Ja, ja – hätte hätte…

Fluchend krempelte ich mir die Ärmel hoch und schaffte erst einmal den ganzen Plunder nach draußen, um mehr Platz zu haben, dann begutachtete ich den vor mir liegenden, anscheinend nun wirklich letzten Haufen und folgte dem Kabelwirrwarr mit den Augen, soweit das im funzeligen Licht meiner Leuchte überhaupt möglich war. Es half nichts, das musste wohl noch eine Lampe her.

Ja, so könnte es gehen, sprach ich zu mir selbst und stellte vorsichtshalber noch eine dritte dazu, auch wenn ich mir unter vernünftigem Arbeiten etwas anderes vorgestellt hatte.

Schlinge um Schlinge und Knoten um Knoten arbeitete ich mich durch das Knäuel. Dann stand das begehrte Objekt frei und ohne nach ihm greifenden Tentakel vor mir und entpuppte sich als Badewanne aus Zink mit verrosteten Stellen. Eine Zinkwanne? Na, wenn die mir nicht wie gerufen kam – wenigstens ein Lichtblick an diesem trüben Tag, auch wenn ich im Geiste Tante Ursula und Muttern vor mir sah, wie sie angesichts der geringen Größe ihre Köpfe schüttelten. Aber für die tat ich mir diese ganzen Strapazen auch gar nicht an, sondern für mich, und da war das hier doch schon mal ein guter Anfang. Wenn es mir jetzt noch gelang, meinen knurrenden Magen zu besänftigen, dann war der Tag vielleicht doch noch nicht verloren.

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (7)

(zuerst veröffentlicht am 31.01.2023 auf Wattpad)

Kapitel 7 : The stairs

… am zweiten Tag aber fing sie schon an zu faulenzen, am dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht aufstehen

Treppauf treppab: Nach dieser kräftezehrenden Lektion fiel ich wie ein Stein ins Bett und fand dennoch keinen Schlaf. Papa aus luftiger Höhe dabei zu beobachten, wie er am anderen Ende der Welt Schnee schippte, hatte mein Weltbild buchstäblich durchgeschüttelt. Wenn ich doch nur herausbekam, wo sich dieser gottverlassene Leuchtturm befand – von Frau Holle hatte ich hier nichts zu erwarten. Im Gegenteil, die hatte meine Woche anscheinend schon von A bis Z durchgeplant.

Zack Zack! Auf geht’s. Keine Atempause – Geschichte wird gemacht, es geht voran…

Nur ging bei mir am nächsten Morgen erst mal gar nichts voran, so zerschlagen, wie ich mich fühlte. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, schlugen auch noch zwei Seelen in meiner Brust. Ich gab dem berühmten Gespann aus Engelchen und Teufelchen auf meinen Schultern daran die Schuld, dass ich nicht wusste, wohin mit mir. Erst am kommenden Wochenende würde ich meine Beschneiungskünste unter Beweis stellen können, was bedeutete, dass sich diese Woche wie Kaugummi in die Länge ziehen würde.

Zum Glück, schrien meine schmerzenden Muskeln mir unhörbar für den Rest der Welt zu, musst du nicht wieder bis ganz nach oben.

Wie dumm, konterte dagegen mein Herz, dein Akku ist fast alle, und du wolltest doch ein Bild vom Leuchtturm schießen, damit du später in Ruhe Nachforschungen anstellen kannst, wie du dort am schnellsten hinkommst.

Aber ganz egal wie ich mich auch entscheiden würde, eines stand für mich jetzt schon fest: Anstatt zu Muttern zurückzukehren und meinen Lohn bei ihr abzuliefern, würde ich mich unverzüglich auf die Suche nach Papa machen, sobald ich hier fertig war, mochte meine Suche auch noch so beschwerlich sein. Nur allzu lange warten durfte ich mit meinem Aufbruch nicht mehr. Zu blöd, dass ich jetzt festsaß. Andererseits fragte ich mich, ob ich auf das viele Gold verzichten und Frau Holle den Bettel vor die Füße werfen sollte, schließlich war es auch nicht die feine englische Art, wenn ich einfach abhaute. Doch wenn sie glaubte, dass ich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bei ihr blieb, lag sie genauso falsch.

Es musste doch eine Möglichkeit geben, wie ich meinen Aufenthalt in diesem Wolkenpalast abkürzen konnte, und wenn ich auf meine bewährte Strategie zurückgriff: Einmal dumm gestellt, hilft dir durchs ganze Leben. Warum sollte das, was mit Mutterns Kaschmirjäckchen geklappt hat, nicht auch diesmal funktionieren? Ein Plan musste her. Aber welcher?

Pläneschmieden, das sagt sich so leicht, wenn man vor lauter Arbeit kaum zu etwas anderem kommt. Wenn es doch wenigstens eine Aufgabe gewesen wäre, bei der ich meine Möglichkeiten in Ruhe durchgehen konnte, doch das Gegacker aus den Hühnerställen machte es mir unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Das Füttern bekam ich ja vielleicht gerade noch so hin, aber schon bei dem Gedanken daran, wie ich in dem Sand zwischen den müffelnden Hinterlassenschaften der Hühner herumwühlen und die Federn mit bloßen Händen aufsammeln sollte, wurde mir ganz anders. Damit allein war es nämlich noch lange nicht getan, denn sobald ich eine ordentliche Menge zusammen hatte, hieß es sortieren, so wie es mir Frau Holle an meinem ersten Tag lang und breit erklärt hatte – und dann ab damit in den Keller.

Na, das konnte ja heiter werden, besonders weil mir keine Arbeitstiere zur Verfügung standen, wie Aschenputtel sie hatte. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen? Das funktionierte vielleicht gerade noch so mit Erbsen, Mais oder Linsen. Aber mit Federn? Spätestens jetzt hätte ich am liebsten mit Aschenputtel getauscht. Die musste jedenfalls nicht wie ich im Vogeldreck herumwühlen und darauf achten, dass nur saubere Federn im Körbchen landeten; und sie musste hinterher die Bude auch bloß mit ’nem Besen ausfegen und nicht wie ich volle Putzeimer schleppen, um das riesige Kellergeschoss nass zu wischen. Das war nämlich noch so ein Thema, über das ich mich bisher ausgeschwiegen habe. Allein schon die vielen Lagerräume, und schlecht beleuchtet noch dazu. Da konnte in den Ecken alles Mögliche lauern. Aber nein, in dem Punkt ließ Frau Holle nicht mit sich reden.

„Genau dafür sind ja die hier da“, hatte sie mir den Raum mit den Petroleumlampen gezeigt und mir angeboten, mich großzügig bedienen zu dürfen. „Dann nimm halt zwei mit.“

Das hatte ich ja wirklich geschickt eingefädelt, aber was sollte das Jammern – spätestens morgen war das große Putzen angesagt. Und ab da jeden zweiten Tag, damit der Boden wegen der vielen herumfliegenden Federn nicht noch mehr versiffte. Aber vielleicht blieb mir diese Plackerei in Zukunft erspart, wenn ich mich nur dämlich genug anstellte, was mich wieder an den Anfang zurückführte, von wegen „einmal dumm gestellt“.

Den Keller unter Wasser setzen? Zu billig. Den Gänsestall offen lassen? Fuchs, du hast die Gans gestohlen? Zu teuer, besonders wenn dabei das Tier zu Schaden kam, das goldene Eier legen konnte. Am Ende verklagte mich Frau Holle noch, und das wollte ich nun wirklich nicht riskieren. Nein, mir würde bestimmt noch etwas brauchbares einfallen.

So, und jetzt noch den Raum mit den Flamingofedern. Dann hatte ich es. Endlich. Von der vielen Schlepperei taten mir so langsam die Arme weh. Das würde einen weiteren Muskelkater geben. Erst dieses Hoch- und Runtertigern, jetzt das stundenlange Gefeudel mit Schrubber und Lappen, den ich nach jeder dieser schummrigen Gewölbekammern auswringen durfte. Weiß der Geier, wofür Frau Holle pinke Federn brauchte. Aber diese Frage würde sie mir bestimmt nicht beantworten. Schnaufend machte ich eine Kehrtwendung, um frisches Wasser zu holen, da blieb ich mit der Fußspitze hängen und riss den Eimer um. Auch das noch. Bestimmt würde es da, wo sich Frau Holles Palast gerade befand, jetzt einen Wolkenbruch geben, der sich gewaschen hatte – gießen wie aus Kübeln, im wahrsten Sinne des Wortes. Und wenn man das Gepolter meines Putzeimers dazu nahm, vielleicht auch noch ein ordentliches Gewitter? Wenn der Schnee von weiter oben kam, wo es kälter war, war es nur logisch, dass das von mir verschüttete Wasser auf der Erde als Regen ankam. Schließlich war es hier ja wärmer…

Äh, was zum Henker dachte ich da gerade? Hatte ich meine neue Rolle schon so verinnerlicht, dass ich schon dachte wie Frau Holle? Kopfschüttelnd betrachtete ich das Chaos, das ich angerichtet hatte, und beschloss, das Wasser nicht aufzuwischen, sondern mit dem Schrubber großflächig zu verteilen und von alleine trocknen zu lassen. Sollte Frau Holle doch meckern, wenn ich das Putzen für heute einstellte. Sollte es doch durchtröpfeln und irgendwo da unten regnen.

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (6)

(zuerst veröffentlicht am 22.01.2023 auf Wattpad)

Kapitel 6 : Do wot you do

Am ersten Tag tat sie sich Gewalt an, war fleißig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte, denn sie dachte an das viele Gold, das sie ihr schenken würde…

„Ich habe auf dich gewartet…“ rief ich mir Frau Holles Worte vom letzten Abend in Erinnerung. Auf mich gewartet – echt jetzt? Doch wohl eher auf die Idiotin, der sie die ganze schwere Arbeit aufbrummen konnte. Ich brauchte nur ihr Bett fleißig aufzuschütteln? Dass ich nicht lachte!

Nein, diese edle Aufgabe war nur die Spitze der Fahnenstange. In Wahrheit warteten ganz andere Highlights auf mich: die Kellerräume jeden zweiten Tag nass durchwischen, die restlichen Stockwerke mit dem Besen durchfegen, die Vögel mit Futter versorgen, den Herd stets im Auge behalten und vor allem das Töpfchen vor dem Zugriff durch Bären schützen.

Moment mal, Bären? Hätte mir einer vorher gesagt, dass Bestien wie diese die Gegend durchstreiften, wäre ich gar nicht erst losgezogen. Für kein Gold der Welt. Doch ich kam nicht dazu, mich näher damit zu beschäftigen, denn Frau Holle fuhr unerbittlich damit fort, was ich noch alles zu erledigen hatte.

So langsam ging mir auf, dass uns Marie mit der Beschreibung ihrer Zeit hier in den schillerndsten Farben kräftig verarscht hatte: zwei Taschen voll mit Gold als Lohn für einen gechillten Job im Schlaraffenland. Wer’s glaubt! Spätestens jetzt wusste ich, dass sie mir den Teil mit der ellenlangen To-Do-Liste verschwiegen hatte. Aus gutem Grund, denn woher der Wind wehte, konnte ich mir schon denken. Bloß keine schlafenden Hunde wecken und Muttern oder gar die Hexe auf dumme Gedanken bringen, bei Marie und mir mit einem ähnlichen Berg an Aufgaben um die Ecke kommen könnte.

Bloß nicht! Das wäre dann definitiv der Moment, wo ihr weglaufen müsst!

Wo war der Shrek, wenn man ihn brauchte?

„Und nun, mein Kind, kommen wir zu unseren gefiederten Freunden.“

Hoffentlich waren da nicht noch mehr Pfauen dabei. Schön waren sie ja, aber wenn doch bloß dieses nervige Gekreische nicht gewesen wäre.

„Links siehst du den Hühnerstall und rechts den mit den Gänsen und Enten.“

Die Alte gab den Weg frei und damit den Blick auf ein riesiges Areal, dessen schiere Größe mich erst einmal schlucken ließ. Mir war ein Rätsel, warum ich eine Handvoll Tiere erwartet hatte. Wenn ich diese Vögel alle füttern wollte, war ich erst mal eine Weile beschäftigt. Hühner, Gänse und Enten, die Flamingos und Truthühner nicht mitgezählt.

„Beeindruckend, nicht wahr?“

Damit hatte sie recht. Doch noch beeindruckender war das, was danach kam.

„Und wenn die Fütterung vorbei ist, kommt das Beste: Sobald sich Hühnchen und Hähnchen zur Ruhe begeben haben, sammelst du die Federn ein. Nur nicht von dem Gänsestall dort hinten. Der ist für dich tabu.“

Bitte, was? Nicht nur, dass ich auch ohne jenen Gänsepferch damit für Stunden beschäftigt war, sollte ich auch noch die Ausbeute des gesamten Tages nach Farbe, Größe und Beschaffenheit sortieren, denn irgendwoher musste die Füllung für Frau Holles Kissen und Decken ja kommen.

„Aber nur die weißen, mein Kind.“

Yo. War klar. Natürlich, was hatte ich auch anderes erwartet! Es sollte ja auch ordentlich schneien, wenn ich ihre Betten am Wochenende aufschüttelte. Was sollte sie da mit Federn vom Flamingo oder gar den schwarzen. Aber wer wusste schon so genau, was in Frau Holles Hirn vor sich ging. Nicht dass am Ende die schwarzen auch noch gebraucht wurden, zum Beispiel für Gegenden, in denen Fabrikschlote ihren Dreck in die Luft pusteten. Bei dem vielen Ruß würden so ein paar dunkle Flocken doch gar nicht auffallen, haha. Aber zum Scherzen war Frau Holle nicht aufgelegt. Schnee war das Stichwort, auf das hin sie mich in Richtung der sich nach oben schraubenden Wendeltreppe schob.

„Nach dir, mein Kind.“

Mein Kind. Ich stand kurz vorm Platzen und war so kurz davor, auszuwachsen, falls ich diese Worte noch einmal hörte. So langsam bekam ich Puls, aber nicht vom Treppensteigen. Mein Kind. Es gab nur einen, der mich so nennen durfte. Papa. Und der war weit weg. Okay, Muttern vielleicht auch noch. Aber die war genauso unerreichbar. Und mit jeder Stufe spürte ich, wie ich mich weiter und weiter von dem Leben entfernte, das ich kannte. Oder geglaubt hatte, zu kennen. Wie lange war Marie nochmal von zu Hause weg gewesen? Mir kam es jetzt schon wie eine Woche, und dabei war ich doch erst am Morgen losgelaufen. Ob die Zeit hier langsamer verging? Oder schneller? Oder… Mir schwirrte der Kopf, woran nicht nur dieses Gedankenkarussell schuld war, sondern an der Höhe, in der wir uns mittlerweile befinden mussten.

Ich hatte die Stufen nicht gezählt, aber hier oben war die Luft dünn. Verdammt dünn. Und kalt. Mich fröstelte in meinen dünnen Klamotten, und mich beschlichen Zweifel, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, das Wolkenkuckucksheim aufzusuchen, egal wie sehr Muttern und Hexe Ursula darauf gedrungen hatten, dass auch ich mit massig Gold heimkehrte. Nur blöd, dass es für diese Art von Reue reichlich spät war und es keinen Weg zurück gab, außer mit einem gut gefüllten Bottich.

„Aufgewacht, die Sonne lacht“, wurde ich da von der Stimme hinter mir aus meinen Gedanken gerissen, keine Minute zu früh, denn der Anblick dessen, was vor mir lag, war unbeschreiblich. Ich versuche es trotzdem.

Wolken überzogen in hauchdünnen Schleiern den zartblauen Himmel, während sich tief unter mir eine Landschaft ausbreitete, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte: ein über den Felsen eine zerklüfteten Küste thronender Leuchtturm, im rauen Wind heiser schreiende Möwen, und dazu eine Kälte wie am Nordpol. Auch ohne die unvermeidlichen Eisbären, deren Gebrüll das nervenzerreißende Geschrei der Vögel übertönte. Dagegen waren die durch die Hügel stolzierenden Pfauen geradezu Gold gewesen.

„Und nun zeige ich dir, wie es richtig gemacht wird!“

Und ehe ich mich versah, hatte ich ein prallgefülltes Kissen in den Händen und musste meiner Chefin auf Zeit jeden Handgriff nachmachen. Wie da die Federn stoben und unten als Schnee ankamen, der sich über die von Raureif überzuckerte Küstenlandschaft legte. Anscheinend war diese Arbeit doch weniger schwer, als ich befürchtet hatte. Nur die Arme wurden einem dabei etwas lahm, aber vielleicht gab es dabei ja einen Trick, wie man sie sich etwas leichter machen konnte. Vielleicht weniger heftig schütteln?

Ja, vielleicht, wenn ich sah, wie sich das Gestöber zu einem wahren Schneesturm auswuchs und die Bewohner des Leuchtturms ins Freie trieb, um den Weg zwischen Tür und Anlegeplatz freizuschaufeln. Und dann geschah es: Just in dem Moment, in dem ich eine Pause einlegte, weil sich ein Krampf in meinen Oberarmen ankündigte, sah ich ihn mit einer Schaufel bewaffnet, in vorderster Reihe und gut erkennbar trotz der Entfernung, die uns voneinander trennte.

Papa.

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (5)

(zuerst veröffentlicht am 21.01.2023 auf Wattpad)

Kapitel 5 : Shake the tree

„Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir’s gut gehn. Du mußt nur achtgeben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle.“

Und wenn es nur mir vor die Füße kullerndes Fallobst war? Knackige Äpfel mit rosa Bäckchen, frisch vom Baum. Wo kamen die denn auf einmal her? Eben noch denkst du an nichts Böses, und zack! sind sie da. In diesem Fall an mein kleines, aber feines Aktiendepot, das ich mir nach und nach von dem angelegt hatte, was monatlich von Papa ins Haus flatterte. Erst letzte Woche hatte ich einen Tip im „Investor’s Guide“ gelesen, der keinen Aufschub duldete.

Apple-Aktien im freien Fall. Liquidieren Sie Ihren Bestand so schnell wie möglich.

Gute Idee, denn wenn der Sinkflug noch länger so weiterging, war meine Strategie für die Tonne. Nur konnte ich meinen Onlineverkauf in genau diese treten, wenn ich nicht schleunigst aus diesem Dauerfunkloch wieder herauskam. Dann konnte ich aus meinen Aktien nur noch einen Drachen basteln, um sie noch ein letztes Mal steigen zu sehen. Genügend Wind war ja vorhanden. Wind, eigentlich schon fast ein Sturm, wenn man’s genau nahm, der aus der Ferne das Ächzen knorriger Äste zu mir herantrug. Wind, der in die Apfelbäume fuhr und einen Apfel nach dem anderen herunter warf und…

Moment mal!

Verwirrt blieb ich stehen und blickte mich um. War ich hier bei der versteckten Kamera, bei der mir jemand einen gewaltigen Streich spielte? Oder litt ich doch an Halluzinationen? Ich hatte zwar immer noch keine Ahnung, woher ich die haben sollte, aber die Vorstellung, dass meine Gedanken bereits im nächsten Moment reale Formen annahmen, war zu absurd, als dass man das mit Wissenschaft oder gesundem Menschenverstand erklären konnte. Zuerst die wie aus dem Nichts aufgetauchten eingemeißelten Brotschieber, dann der Weg aus roten Pflastersteinen, der einen aus gelben Steinen kreuzte – und jetzt das?

Was schon liegt, kann nicht mehr fallen, ignorierte ich die obskure Fünf-Sekunden-Regel und bückte mich ächzend nach der Frucht, dann begutachtete ich sie skeptisch und deshalb umso gründlicher. Keine Delle war da, keine einzige Runzel, noch nicht einmal auch nur eine wurmstichige Stelle. Das war zu schön, um wahr zu sein. Und doch wusste ich, dass das hier kein Traum oder Einbildung war. Dazu musste ich mich nicht einmal selbst kneifen. Ein Apfel, dann noch einer, und noch einer… Hier musste es mehr davon geben! Kein Wunder, denn ich hatte mich ja nicht umsonst für den Weg über die Apfelwiese entschieden. Wie es aussah, hatte ich sie schneller als erwartet gefunden und damit auch den Weg zu Frau Holles mysteriösem Palast. Aber das hatte ich schon beim Anblick der vielen Pfauen geahnt.

Glückwunsch, Resina, hätte ich mir gönnerhaft auf die Schulter klopfen können, wäre es nicht so spät und ich vor allem nicht so kaputt gewesen. Mann, hatte ich vielleicht einen Muskelkater! Wie sollte ich da nur die Äpfel von ihren Bäumen schütteln, geschweige denn von einem einzigen Bäumchen?

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind…

Von wegen! Ich hätte es lassen sollen, denn so konnte ich mich gerade noch am Zaun festhalten, bevor ein Sturm losbrach, gegen den die Böen vorhin nur ein laues Lüftchen waren; ein Sturm, der in die Bäume ringsum fuhr und für einen wahren Hagel an Früchten sorgte, von denen ich hoffte, dass sie mir nicht auf den Kopf donnern würden. Da half nur beten. Oder wünschen. Was, wenn ich nicht nur Wind heraufbeschwören, sondern ihn auch wieder zum Erliegen bringen konnte, allein mit der Kraft meiner Gedanken? Wie war das nochmal mit den Gedanken, die frei waren? So ein Blödsinn, Resina, ging es mir durch den Kopf, aber andererseits konnte ein Versuch nicht schaden. Konzentrier dich…

Und tatsächlich wagte ich kaum, meinen Augen zu trauen, als sich der Sturm verzog und ich das Fallobst endlich einsammeln konnte, um es in meinen inzwischen gut geleerten Rucksack zu stopfen, bevor es noch zu gammeln anfing. Da hatte ich aber Glück gehabt, dass die Menge an herabgefallenen Äpfeln so überschaubar geblieben war und sich der Schaden, abgesehen von ein paar morschen Ästen, in Grenzen hielt. Aber Schwund gab’s ja schließlich immer – ein Verlust, den Frau Holle bestimmt leicht verschmerzen würde, wenn ich mit den vielen schönen Äpfeln ankam. Wer würde sich nicht über frisch gekochtes Apfelmus freuen? Frau Holle vielleicht? Vorstellen konnte ich mir vieles, aber das nicht. Hatte nicht Marie lang und breit erzählt, wie sie von der Alten mit offenen Armen empfangen worden war? Bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir’s gut gehen…  

Tritt ein, bring Glück herein. Und wenn du weder Brot noch Salz dabei hast, wie wär’s dann mit Äpfeln? Dumm nur, dass es hier zwar einen See gab, aber das dazu gehörende Haus auf sich warten ließ. Grübel, grübel, und studier… mal scharf nachdenken, Resina. Wenn du das Wetter verändern kannst, bist du bestimmt noch zu ganz anderen Dingen fähig…

Wie zum Beispiel den Weg abzukürzen.

Habt ihr auch immer geglaubt, dass ihr eure Wünsche für euch behalten müsst, wenn ihr eine Sternschnuppe seht, damit sie in Erfüllung gehen? Tja, in meinem Fall konnte ich diesen Ratschlag vergessen, denn das Gegenteil traf zu – wobei ich, nebenbei gesagt, noch stark untertrieben habe. Im Prinzip war’s wie Pfeifen, Fingerschnippen oder flache Kiesel übers Wasser hüpfen lassen: Wenn man’s einmal drauf hat, dann läuft’s. Wie geschnitten Brot. Oder wie bei diesem komischen Töpfchen, das ganz von alleine süßen Brei kocht. Töpfchen koche, Töpfchen steh… Denn kaum hatte ich mir gewünscht, endlich anzukommen, war auch schon ein Gebäude aufgetaucht, das ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.

Seltsam, ich hätte schwören können, dass in Maries Erzählung das besagte Anwesen bedeutend kleiner gewesen war, eigentlich nicht größer als ein Häuschen, um genau zu sein. Doch das hier schien geradezu in den Wolken zu verschwinden. Aber vielleicht waren an diesem Eindruck ja auch nur die verdächtig tief hängenden Abendnebel schuld, die den ersten Stock in Berge von Watte einhüllten. Anscheinend war ich in meinem Staunen über die wahren Ausmaße dieses Hauses zu so etwas wie einer Salzsäule erstarrt, umso mehr erschrak ich, als mich jemand unverhofft von der Seite ansprach.

„Ich habe auf dich gewartet!“

Huch! Was für ein alter Spruch! Zuletzt hatte ich den bei Michael Mittermeier gehört, doch nun wurde ich damit von einer älteren Dame mit ausgeprägtem Pferdegebiss begrüßt. Oha! Also waren die großen Zähne, von denen Marie gesprochen hatte, doch keine Einbildung gewesen.

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (4)

(zuerst veröffentlicht am 15.01.2023 auf Wattpad)

Kapitel 4 : The apple came down

Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief: „Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.“ Sie antwortete aber: „Du kommst mir recht, es könnte mir einer auf den Kopf fallen,“ und ging damit weiter. Als sie vor der Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen Zähnen schon gehört hatte, und verdingte sich gleich zu ihr.

„… und da habe ich sie aus dem Ofen gezogen“, hallten Maries Worte in mir nach. Worte, mit denen sie beschrieben hatte, wie es panisch aus dem Ofen „zieh mich raus, sonst verbrenn ich“ geschallt hatte: Gebäck in allen Varianten, alles außer Pizza, doch zum Glück war mein Schwesterherz an Ort und Stelle gewesen, um es an der frischen Luft abkühlen zu lassen. Das nenne ich mal perfektes Timing! Zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein, wie schön für sie… aber was hatte ich? Die Arschkarte!

Anstatt das Backwerk zu retten, konnte ich nur noch den Ruß zusammenkratzen. Pluspunkte würde mir das bestimmt nicht einbringen, na schönen Dank auch. Aber wie hätte ich auch wissen können, dass sich der Weg so lange hinziehen würde und ich außerdem gezwungen war, mit Tempos MacGyver zu spielen? Ohne diese Verzögerung hätte ich es bestimmt rechtzeitig geschafft…

Ach, mach dir doch nichts vor! meldete sich meine innere Stimme. Auch ohne das ganze Gedöns hättest du die Pizza verbrennen lassen. Du hättest nämlich wieder dieses Lied im Kopf gehabt und diesen einen verflixten Nachmittag vor dir gesehen.

Ashes to Ashes? Oh bitte nicht, hielt ich in Gedanken dagegen, denn ich wusste ganz genau, worauf diese nervige Stimme anspielte: Den Tag, an dem es bei uns zu Hause eskaliert war.

Dass sich Papa und Muttern stritten, war ja nichts neues, doch ums „liebe Geld“ hatte sich ihre letzte Auseinandersetzung an jenem Tag nicht gedreht, jedenfalls nicht nur darum. Wo bei anderen Paaren unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf das Finanzielle für ausgewachsene Krisen sorgten, hatte Papa etwas ganz anderes umgetrieben.

Während im Ofen die Pizza verführerisch schmurgelte, war Muttern ein „Liebe geht durch den Magen“ entschlüpft, eine gedankenlose Bemerkung von der Sorte, die Papa schon länger gegen den Strich ging. Engstirnigkeit gepaart mit einem begrenzten Maß an Intelligenz und Empathie. Der geistige Horizont ist der Abstand zwischen Hirn und Brett? Ein Umstand, den er anfangs wissentlich ignoriert hatte, denn was tut man nicht alles aus Liebe. Doch mit den Jahren war die Kluft zwischen den beiden immer tiefer geworden. Immer häufiger hatte er bei dem, was sie den lieben langen Tag lang so von sich gab, die Ohren auf Durchzug gestellt, doch irgendwann war das Maß voll. Denn leider hatte ihr Geplapper an jenem Tag darin gegipfelt, dass sich der Mann, der Marie eines Tages zur Frau bekommen würde, glücklich schätzen konnte.

Und alles nur, weil sich mein Schwesterherz beim Backen mal wieder selbst übertroffen hatte, während ich…

Da war Papa der Kragen geplatzt.

„Ja, spinn‘ ich denn?“ war er so aus der Haut gefahren, dass ich vor Schreck die Ofenklappe zufallen ließ und mir die Hand an ihrem heißen Rahmen verbrannte.

„Der Mann, der Marie eines Tages zur Frau bekommen wird? Ich fass‘ es nicht!“

So hatte ich ihn noch nie erlebt.

„Was glaubst du wohl, warum mir eine breitgefächerte Bildung und verschiedene Fähigkeiten bei den Mädchen so wichtig sind?“

Ja, warum wohl? Schon immer hatte ich mich gefragt, wozu das viele Lernen gut war. Vielleicht, damit ich später nicht alles selber tun musste, sondern die schweren und unangenehmen Tätigkeiten an andere delegieren konnte? Das aber sahen unsere Eltern komplett anders. Schlimmer noch: An dieser Frage schieden sich die Geister der beiden. Zwar waren sich beide in dem Punkt einig, dass es nicht schaden konnte, wenn Marie und ich wussten, wie sich wirkliche Arbeit anfühlte. Doch bei dem eigentlichen Zweck dahinter gingen ihre Meinungen stark auseinander.

Team „Mona Lisas Lächeln“ gegen Team „Die Frauen von Stepford“: Wo Papa uns früh genug das nötige Rüstzeug mitgeben wollte, damit wir später auf unseren eigenen Füßen stehen konnte, träumte Muttern davon, dass wir ganz traditionell heiraten würden. Familiengründung inbegriffen.

„Die idealen Ehefrauen? Geht’s noch? Und was machst du, wenn sich niemals auch nur ein geeigneter Heiratskandidat einstellt oder Marie und Resina lieber Single bleiben wollen?“

Oder sich vielleicht aus Männern auch gar nichts erst machen, fügte ich in Gedanken hinzu, hielt aber meinen Mund und drückte mich ängstlich in eine Ecke, weil die Fetzen nun erst so richtig flogen. Verbal gaben sich beide nichts, so viel stand fest. Verstört hatte ich mir mit pochenden Händen die Ohren zugehalten, doch ab und zu war doch der ein oder andere Fetzen zu mir durchgedrungen.

Wenn dem Mann andere Qualitäten wichtiger sind… Oder der Mann vorher stirbt und die Frau alleine dasteht, so ohne Beruf… Oder oder oder… Oder ganz abhaut!

Oder ganz abhaut? Da war mir schlecht geworden, denn das hatte gar nicht mehr nach dem dämlichen Spruch „wenn das Wörtchen wenn nicht wär“ geklungen, sondern nach bitterer Realität. Papa wollte uns verlassen? Nein, das durfte nicht sein! Aber mein stummes Flehen war nicht erhört worden, und so hatte ich fassungslos mit ansehen müssen, wie er seine sieben Sachen packte und die Tür hinter sich ins Schloss knallte, während Muttern käseweiß und unter Tränen auf ihrem Stuhl zusammengesackt war.

Die Pizza im Ofen war dabei schwärzer und schwärzer geworden.

Wenig später hatten wir Gewissheit: Mit dem Eintreffen des Briefs von seinem Anwalt, in dem von Scheidung die Rede war, hatten wir die Hoffnung, dass er zu uns zurückkehren würde, für immer begraben. Einzig die monatlichen Zuwendungen für Marie und mich, nicht mehr als ein Tröpfchen auf den heißen Stein, waren das einzige Zeichen dafür, dass er noch existierte. Nur wo er geblieben war, wusste kein Mensch zu sagen.

Schniefend fegte ich die letzten Reste von dem, was einst Gebäck gewesen war, zusammen und kippte sie in den nächsten Bach, der die schwarzen Brocken mit sich trug. Dann sah ich mich um. Frau Holles Bäckerofen hatte ich ja nun leider viel zu spät gefunden, doch wenn ich mich ranhielt, konnte ich es noch zur nächsten Station schaffen. Doch wohin des Wegs? Eine Orientierungshilfe, egal wie klein, wäre jetzt nützlich gewesen, und tatsächlich erspähte ich zwischen den sich lichtenden Rauchschwaden einen hölzernen Wegweiser mit drei Richtungspfeilen daran.

Zur Apfelwiese… Zum Wolfswald… Nach Zwergenhausen

Das war ja einfach! Kaum hatte ich den Gedanken laut ausgesprochen, erschien vor mir wie aus dem Nichts ein Weg aus roten Steinen. Nicht aus gelben? Ach ja, ich vergaß: Ich wollte ja nicht zur Smaragdstadt, sondern zur Alten vom wandernden Wolkenkuckucksheim, besser bekannt als Frau Holle. Maries Ausführungen nach konnte es nicht mehr weit sein. Aber das hatte sie ja auch über den Weg zum Backofen gesagt, aber da ich es mit dem Motto „im Zweifel für den Angeklagten“ hielt, versuchte ich, optimistisch zu bleiben. Vielleicht geschahen ja wirklich noch Zeichen und Wunder.

Und wenn es nur mir vor die Füße kullerndes Fallobst war.

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (3)

(zuerst veröffentlicht am 08.01.2023 auf Wattpad)

Kapitel 3 : Just keep walking

Sie kam, wie die andere, auf die schöne Wiese und ging auf demselben Pfade weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder: „Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich, ich bin schon längst ausgebacken.“ Die Faule aber antwortete: „Da hätt ich Lust, mich schmutzig zu machen,“ und ging fort..


Abenteuer der Landstraße… wer’s glaubt: Just keep walking. Yo. Mit hängender Zunge und staubigen Füßen. Alles hätte ich dafür gegeben, jetzt auf einen achtlos am Straßenrand zurückgelassenen Roller zu stoßen; was interessierte mich da mein Geschwätz von vorgestern über die Verkehrshindernisse auf zwei Rädern oder die Pest auf Rollen. Jetzt jedenfalls herrschte auf dieser Chaussee gähnende Leere – weit und breit war kein Schwein unterwegs an diesem Tag, der am Anfang noch sonnig gewesen war. Nicht mal ein simpler Eselskarren war unterwegs zu sehen, was ich doch seltsam fand, wenn ich genauer darüber nachdachte.

So viel zum Thema, dass ich dann halt später an der Abzweigung ankommen würde. Denn so langsam fühlte ich mich wie der Typ in dieser uralten Aral-Werbung, der stundenlang mit leerem Kanister durch die Pampa stapft, auf der Suche nach der richtigen Tankstelle. Denn in den Tank seines liegengebliebenes Vehikel kommt nicht jeder x-beliebige Sprit. I’m walking? Schon blöd, wenn es dann mit der Latscherei länger dauert, so ohne Snickers und sonstigem Proviant im Allgemeinen? Ein Stück Pizza wäre jetzt schick gewesen. Oder meinetwegen auch ein Apfel. Man ist doch sonst nicht so anspruchsvoll.

In meinem Fall machte mir nämlich nicht ein leerer Kanister zu schaffen, sondern ein leerer Magen. Kein Wunder, wenn die Vorräte zur Neige gehen und man gezwungen ist, sie sich besser einzuteilen, wenn man den kommenden Tag überstehen will. Eines jedoch ließ sich nicht einteilen: Das Tageslicht. Inzwischen näherte sich die Sonne bedenklich dem rötlich schimmernden Horizont. Auch das noch! Wenn ich nicht bald einen Unterschlupf für die Nacht fand, war ich am Arsch. Aber sowas von.

Nachts unter freiem Himmel in der Einöde würde mir auch das ganze Geld aus meinen Aktienspekulationen nichts helfen. Money can buy you almost anything, but anything’s nothing when you’re dead, kam mir da die Zeile des Liedes in den Sinn, das mich schon seit der Mittagszeit verfolgte, nachdem ich den letzten Rest meines kaltgewordenen Brathähnchen verputzt hatte.

Verflixt und zugenäht, wir drehen uns im Kreis. Leider wusste ich nur zu gut, wohin das führte, wenn meine Gedanken damit anfingen, Karussell zu fahren: nämlich zu einer Fahrt ohne Garantie aufs Ankommen, ganz wie in meinem persönlichen Alptraum, der mich früher immer dann heimgesucht hatte, wenn ich unter Strom stand: Gestrandet in einem Dorf, in dem ich mich seltsamerweise gleich wie zu Hause fühlte, obwohl ich dort nie zuvor gewesen war, und auf der Suche nach einem Weg nach draußen, den es nicht gab, sonst hätte mich der verflixte Wegweiser nicht ständig in die Irre geführt. Dass ich davon schweißgebadet aufwachte, machte es nicht besser und war nur der Vorgeschmack auf die nächste Nacht, in der ich denselben Mist träumte. Durchhalten, versuchte ich, mir Mut zu machen, denn aus Erfahrung wusste ich, dass der Spuk nur wenige Tage anhielt. Das erste Mal, nachdem Papa und Mama…

U-iiiiieeeek. U-ääääk. Rrrr-uäääh.

Um Himmels willen, das Gekreisch war ja kaum auszuhalten und machte, dass ich komplett den Faden verlor. Reflexartig hielt ich mir die Ohren zu, bevor sie zu bluten anfangen konnten. Mein Gott, dagegen klang ja jede Feuersirene melodischer. Wer auch immer dafür verantwortlich war, die Nervensäge würde sich auf etwas gefasst machen können, wenn ich sie erst einmal ausfindig gemacht hatte. Wild entschlossen, der Quelle des infernalischen Lärms auf den Grund zu gehen, zog ich eine Packung Taschentücher aus meinem Rucksack und bastelte mir aus ihnen mehr schlecht als recht einen provisorischen Gehörschutz.

Auch wenn ich mit den Tempos in meinen Ohren absolut lächerlich aussah und mich mein Schatten entfernt eine abgespeckte Version von Shrek erinnerte, so war ich dankbar für diesen geschickten Move. Jetzt waren die bei jedem meiner Schritte immer lauter werdenden Schreie zwar immer noch zu hören, dafür nun aber endlich auf ein erträgliches Maß gedämpft. Gleich war es soweit, nur noch eine Kurve, dann…

Ein Pfau!

Einer? Ach was, mehrere. Hätte ihr penetrantes Gequäke meine kleinen grauen Zellen nicht lahmgelegt, wäre ich wahrscheinlich viel eher darauf gekommen, denn soweit ich diese Strecke noch in Erinnerung hatte, gab es hier weit und breit keine Fasanerie. Oder etwa doch? Auf Google Maps oder Google Street View war auch kein Verlass mehr, denn die hätten mir alles Mögliche gezeigt, nur nicht den von mir seit Stunden gesuchten Wegweiser; und schon gar nicht das seltsame Bild, das ich nun sah: abseits der sich durch die hügelige Landschaft windenden Straße erstreckten sich saftige Wiesen in einem unwirklichen Grünton bis zum Horizont. Und als ob das alleine nicht gereicht hatte, tummelten sich auf ihr blaue und weiße Pfauen. Einer von ihnen schlug ein Rad, sichtlich bemüht, die Dame seiner Wahl zu beeindrucken.

Pfauen. Mitten in der Pampa. Komische Halluzinationen waren das. War am Ende das Brathähnchen an ihnen schuld? I wo, das Vieh war ganz frisch gewesen, daran konnte es nicht liegen. Noch vor meinem Aufbruch hatte ich es im Ofen knusprig gebraten. Knusprig braten – wenn man vom Teufel spricht, durchfuhr mich ein Gedanke, als sich mein knurrender Magen lautstark bemerkbar machte.

So schön und dennoch surreal der Anblick der majestätisch dahinschreitenden Vögel auch war, am Ende war es die Rauchfahne, die hinter der nächsten Hügelkuppe in dichten Schwaden über den Himmel zog und mir einen Gestank entgegen trug, den ich seit jenem Tag verdrängt hatte – den von verbrannter Pizza.

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (2)

(zuerst veröffentlicht am 08.01.2023 auf Wattpad)

Kapitel 2 : Beautiful girl

Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein.

Schönheit vergeht, Hektar besteht. Wobei Schönheit relativ ist. Nur weil ich nicht dem allgemein gängigen Ideal entspreche. Blonde Wallelocken, Sanduhrfigur, Stupsnäschen, volle Lippen in zartem Rosa. Sorry, tut mir leid, damit kann ich nicht dienen. Ich korrigiere mich: Es tut mir nicht leid, dass ich nicht so eine typische Instagram- oder TikTok-Tussi bin. Diese Flausen hat Muttern uns schon früh ausgetrieben, von wegen Rosinen im Kopf und so. Instagram, ha ha… So ein Stuss! Aber im Blödsinn verzapfen, war Muttern schon immer groß.

Hektar besteht? Dazu müsste man halt auch so clever sein und dafür sorgen, dass man seinen Grund und Boden nicht mit einer Hypothek nach der anderen belastet. Tja, und weil wirtschaftliche Zusammenhänge zu erfassen, noch nie ihre Stärke war, hält es Muttern für eine ganz tolle Idee, Trödel zu sammeln und von Marie aufmotzen zu lassen, um den Kram bei etsy oder Ebay-Kleinanzeigen weiter zu verscherbeln.

Neben der Hausarbeit natürlich, für die sie mich nur ungern einteilt, seit wegen mir ihre weiße Wäsche rosa aus der Maschine kam, mitsamt den auf Babygröße zusammengeschrumpften Cardigan aus Wolle, ein Erbstück von Oma.

Dieser rein zufällige Unfall brachte mich auf eine geniale Idee. Frei nach dem Motto „dich einmal dumm gestellt, hilft dir durchs ganze Leben“. Ein zerstörtes Meißner-Kaffeeservice und eine unter Wasser gesetzte Wohnstube später, und ich genoss fortan Narrenfreiheit.

Herrlich, endlich tun und lassen zu können, was ich will! Mein Lieblingsplatz unterm Birnbaum. Endlich konnte ich nach Herzenslust Pläne schmieden, wie ich mir den Alltag noch angenehmer gestalten konnte und beschloss, die angesparten Kröten in Aktien zu investieren: Billig einsteigen, die Dividenden mitnehmen und zum höchstmöglichen Kurs verkaufen. Vorausgesetzt, weder Muttern noch Marie oder gar die Tante bekamen etwas davon mit. Die hätten bestimmt Mittel und Wege gefunden, mir die Freude zu verderben und mir das Taschengeld komplett zu streichen. Mit meinen Geschäften und dem schönen Leben wäre es dann vorbei.

Ein GAU, der im Prinzip längst eingetreten war, wenn ich so drüber nachdachte, denn sonst hätte ich mich nicht auf einer staubigen Landstraße wiedergefunden, wo ich vergeblich auf eine Mitfahrgelegenheit wartete. Nicht einer hielt trotz meines ausgestreckten Daumens an. Dann eben nicht, maulte ich in der Mittagssonne vor mich hin. Schließlich habe auch ich meinen Stolz; niemals, so hatte ich mir geschworen, würde ich so tief sinken und die Röcke raffen, um verführerisch ein Bein rauszustellen. Das war sowas von letztes Jahrtausend und unter meinem Niveau. Dann würde ich halt später an der Abzweigung zum Feldweg ankommen von wo es zu den sieben Hügeln hinter den sieben Weiden führen würde, wo die Alte angeblich wohnte.

Wenn wir alle Marie Glauben schenken durften, dann lebte die in einem Palast. Warum mir allerdings Google Maps den nicht anzeigte, war mir ein Rätsel. Ihr wandelndes Schloss war schließlich kein Ableger der berühmt-berüchtigten Area 51 oder ein Ort, wo man Nukleartechnologie entwickelte; und es gab dort weder eine militärische Forschungseinrichtung noch einen um jeden Preis geheim zu haltenden Teilchenbeschleuniger. Nur einen riesigen parkähnlich angelegten Hof, auf dem die Alte die unterschiedlichsten Arten von Federvieh hielt.

Tauben Hühner, Enten… wozu also der ganze Aufriss?

Ja, ja, von wegen „man werfe seine Spule in den Brunnen und schwupps! steht man auf einer schönen Wiese“. Wer’s glaubt! Dieses Hirngespinst habe ich Marie von Anfang an nicht abgenommen und ihr später, als alles schlief, ein wenig gründlicher auf den Zahn gefühlt.

Da hatte sie Muttern und den Drachen von Tante aber schön an der Nase herumgeführt und das mit der Spindel doch glatt erfunden, um keinen Ärger zu bekommen, weil sie das Ding verschusselt hatte und weggelaufen war: immer schön am Fluss entlang und der Nase nach, oder besser gesagt den Kanadagänsen auf ihrem Weg nach Süden.

Gänse, Pfauen, Schwäne… Wenn jetzt noch Kraniche, Kormorane und Flamingos dazukamen, war der Vogelpark komplett. Ach ja, ich liebe es, wenn meine Schwester ihre blühende Fantasie unter Beweis stellt. Aber jetzt mal im Ernst: Als sie den Teil mit den Pfauen und Schwänen hinter sich gelassen hatte und den Wegweiser aus Stein mit den beiden charakteristischen Brotschiebern erwähnte, wusste ich Bescheid. Schließlich hatte ich ihn schon oft genug im Traum geseehn

Den Umweg über den Flusslauf konnte ich mir sparen und direkt die Straße nehmen. So weit der Plan.

Tja, und da haben wir auch schon das Dilemma, frei nach dem Motto „Alles verlief nach Plan, doch der Plan war Murks“. Denn wenn man darauf spekuliert, dass irgendjemand einen schon mitnehmen würde, wird hundertprozentig nichts draus. So viel hätte mir schon mein Verstand sagen müssen.

Doch der muss an diesem Tag Sendepause gehabt haben.

Rewind the Classics *** Märchen neu erzählt (1)

(zuerst veröffentlicht am 05.01.2023 auf Wattpad)

Kapitel 1 : Das Haus am See

Das Tor ward aufgetan, und wie das Mädchen gerade darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so daß es über und über davon bedeckt war. „Das sollst du haben, weil du so fleißig gewesen bist,“ sprach die Frau Holle und gab ihm auch die Spule wieder, die ihm in den Brunnen gefallen war.

Hei, war das ein Spaß, als meine liebe Schwester mit prallgefüllten Taschen, randvoll mit goldenen Münzen heimkam. Welche Ironie, dass sie da gerade zum x-ten Mal Das Haus am See im Radio dudelten.

♪ Doch irgendwann werd ich vom Glück verfolgt, mh-mh, und komm zurück mit beiden Taschen voll Gold ♪  schallte es zum Fenster raus, bis rüber zu dem Birnbaum, unter dem ich eine Verschnaufpause eingelegt hatte von der Plackerei während Maries mysteriösem Verschwinden. Keiner von uns hatte einen Schimmer, wo sie sich herumgetrieben hatte.  

An dieser Stelle musste ich ausnahmsweise meiner Schwester neidlos lassen, dass es ein ziemlich cleverer Move von ihr gewesen war, sich mit zwei Jutebeuteln vom Biomarkt unter das Tor zu stellen, um das viele „Gold“ von dieser Falschmünzerin aufzufangen, denn die hatte sie locker unter ihren Klamotten verbergen können und waren daher am wenigsten aufgefallen. Stofftaschen? Ach, ihr habt doch nicht etwa geglaubt, dass sie wie ein Christbaum behängt, nach Hause getrabt wäre, ohne dass auch nur das kleinste Fitzelchen von ihr abgefallen wäre. Sie hätte ja eine Spur nach Sonstwo hinterlassen. Und flüssiges Gold? Denkt an Viserys Targaryen. Aber das hatten wir schon.

Mit offenem Mund und großen Augen hörte ich mir in aller Ausführlichkeit an, was sie bei „der Alten vom wandernden Wolkenkuckucksheim“ erlebt hatte und stützte mich gedankenversunken auf den Besen, mit dem ich eigentlich den Hof kehren sollte. Aber da kannte ich meine Tante Ursula schlecht. Sofort baute sie sich zu ihrer vollen Größe vor mir auf und setzte zu einer Moralpredigt an.

Typisch Tante Ursula. Diese Hexe ging mir schon seit dem Moment gehörig auf den Zeiger, seit sie zum verkehrtesten Zeitpunkt bei uns hereingeschneit war und Mutterns schönen Plan torpediert hatte. Adé, traute Mutter-Tochter-Zweisamkeit, hatte ich im Stillen vor mich hin geseufzt, da Papas Schwester (Gott hab ihn selig) eine von der ganz pingeligen Sorte war. Wenn die auf der Matte stand, drohte Ärger, und tatsächlich:

Wie jetzt… du hast vor, dir per Aushang für die Hausarbeit irgendwelche Schüler zu suchen, die ab und zu ihr Taschengeld aufbessern wollen? Also ehrlich! Du willst im Ernst unnötig Geld zum Fenster rauswerfen, wo du es doch sowieso nicht so dicke hast – aber dafür eine Tochter, die das Arbeiten auch nicht erfunden hat? Höchste Zeit, dass Resinas Faulenzerei ein Ende hat.

Tolle Wurst. Da hatte ich nun den Salat, denn von da an war es beschlossene Sache, dass ich gefälligst anpacken sollte, wobei die Begriffe ruhig mal, ausnahmsweise und mit anscheinend generell in ihrem Vokabular nicht vorkamen. Tritt ein, bring Glück herein? Selten so gelacht.

Nicht. Ja, bin ich denn das Aschenputtel?

Tante Ursula kann mich mal. Ständig hing mir diese Ausgeburt der Hölle auf der Pelle, feudelte und wischte mir in einer Tour hinterher und kontrollierte mich auf Schritt und Tritt. Pausen machen? Zeitverschwendung! Nicht mal fünf Minuten Ruhe gönnte sie mir und nannte mich faul, nur weil ich mir schöneres für mein Leben vorstellen konnte, als irgendwelchen sinnlosen Sisyphusarbeiten nachzugehen. Für mich gab es nichts schöneres, als in ein Buch einzutauchen und meinen Gedanken nachzuhängen. Doch dafür fehlt der Tante der Sinn.

Ach ja, die Tante. Die kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, da waren sie und Muttern sich zur Abwechslung mal einig. Aber ich wusste, es war nicht von Dauer. Denn kaum hatte sich Tante Ursula zur Nachtruhe begeben, nachdem Marie ihre Erzählung über ihre Erlebnisse beendet hatte, da sah ich ihn: den lauernden Blick in Mutterns Augen. Das verräterische Funkeln in ihnen kannte ich nur zu gut, und ich wusste auch schon, was gleich kommen würde.

Mehr.

Ich brauche mehr davon.

Mehr Gold!

Du weißt schon wo…

Also schickte sie mich auf den Weg und ermahnte mich, gut achtzugeben, dass mir auch ja kein Fehler unterlief. Natürlich musste Tante Ursula auch noch ihren Senf dazugeben und anmerken, dass ich es dann aber auch bitte schlauer anstellen sollte als unser Goldkind, die bloß mit zwei läppischen Taschen aufgekreuzt war, wo doch ein Bottich ja wohl das mindeste gewesen wäre!

Ach, es hatte keinen Zweck, den beiden zu verklickern, dass so ein Behälter einiges wöge und es schwierig werden würde, ihn von A nach B zu schaffen, ohne mir dabei einen Bruch zu heben oder auch nur eine der kostbaren Münzen zu verlieren. Aber da bei Muttern Widerstand zwecklos war, fügte ich mich leider zum Glück in mein Schicksal und schnappte meinen Rucksack, in den alles Mögliche reinging. Nur leider kein Gold.