So, rechtzeitig auf den letzten Drücker vor meiner kommenden Sommerpause, folgt hier das zehnte und zwischenzeitlich letzte von meinen veröffentlichten Kapiteln. Der Plan, wie es weitergehen soll steht, doch die Sätze sind noch nicht geschrieben…
Kapitel 10 : The policy of truth
… die Frau Holle führte sie auch zu dem Tor …
Das gibt’s doch nicht, murmelte ich und rieb mir zutiefst verwirrt die Augen. Ich musste zweimal hinsehen und mich selbst in den Arm kneifen, doch das vermeintliche Trugbild von dem Kerl in der Ecke, der hochkonzentriert über einem Korb voller Federn brütete, hielt diesem Test stand.
Meine Tochter kann Stroh zu Gold spinnen, kam mir unwillkürlich die alte Mär vom König und der Müllerstochter in den Sinn, die Marie und ich als kleine Kinder immer vorm Einschlafen vorgelesen bekommen hatten. Stroh zu Gold spinnen? Mach Sachen! Also gab es doch Leute, die das konnten. Nur dass es in diesem Fall Federn waren und vor mir kein verschlagenes Hutzelmännchen saß, sondern ein junger Mann. Blond und von angenehmer Erscheinung, musterte er mich genauso verblüfft wie ich ihn. Komisch, das Rumpelstilzchen hatte ich mir immer anders vorgestellt. Den Goldjungen nach seinem Namen zu fragen, hatte unter diesen Voraussetzungen wohl keinen Sinn, und doch war es das erste, das meinem Mund entfleuchte. Nach diesem Stich ins Wespennest kam nichts – für gefühlte fünf Minuten.
Dann ein Stottern.
„M-M-M-Midas. Nennt mich… nennt mich einfach Midas.“
Midas. König Midas? Einen besonders königlichen Eindruck machte mein Gegenüber in seinen abgetragenen Klamotten nicht gerade, und dennoch musterte er mich von oben herab, soweit das im Sitzen überhaupt möglich war.
„Seh ich so aus, als ob ich mit dem irgendwas zu tun habe?“
Upsi, da war aber jemand angepisst. Und anscheinend auch in der Lage, Gedanken zu lesen, und besonders meine – die ich von nun an besser unter Verschluss hielt, wenn ich nicht ein zweites Mal sprachlos zurückbleiben wollte. Jetzt bloß nicht den Kopf verlieren, oder gar die Fassung – seine eigene hatte er erstaunlich schnell wiedergefunden.
„Aha – Midas also…“, gab ich zurück und betonte seinen Namen so, als ob ich dem blonden Bürschchen vor mir nicht traute. Midas – wenn das sein echter Name war, dann fraß ich einen Besen. Irgendwas hatte er zu verbergen. Aber was? Na, dann wollen wir dir mal auf den Zahn fühlen, fasste ich mir ein Herz, bevor ich fortfuhr. „… nicht mit dem König verwandt. So so…“
Mein so so ließ ich mit einem ironischen Unterton bewusst in der Luft hängen, um eine Reaktion aus ihm herauszukitzeln. Und die kam schneller als erwartet.
„So weit kommt’s noch!“ erwiderte er empört und sprang mit rotem Gesicht von seinem Hocker auf, dass die Federn in dem Korb vor ihm nur so durch die Luft wirbelten. Upsi, falsche Ansage. Hier war aber jemand auf den König gar nicht gut zu sprechen. Aber warum bloß? Etwas schien den armen Kerl zu triggern, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was das war, wo doch alle nur Gutes über den König zu berichten wussten.
„Nur Gutes?!“ entrüstete sich Midas. „Der Witz war gut. Wegen dem sitze ich doch überhaupt erst hier!“
So langsam gab seine Reaktion einen Sinn. Aber wenn er etwas angestellt hatte, hätte er dann nicht in den Kerkern des königlichen Palasts sitzen müssen anstatt in einem Verlies bei Frau Holle? Es sei denn, Frau Holle diente der Justiz als verlängerter Arm. Vielleicht hatte ihn Frau Holle ja auch bei seiner Flucht aufgegriffen und hielt ihn so lange fest, bis die Schergen des Königs eingetroffen waren. Die Geschichte wurde immer verworrener.
„Ach, und seit wann?“ wollte ich wissen. Viel Zeit konnte er bei seinem sanft gebräunten Teint hier unten nicht verbracht haben. Aber ganz gleich, wie lange er hier schon saß, der Gedanke, dass es doch jemanden geben musste, dem er fehlte, führte mich zu meiner nächsten Frage. „Und deine Eltern… was ist mit denen? Die machen sich doch bestimmt schon Sorgen.“
„Meine Eltern?“ kam es über meine Lippen. „Frag besser nicht. Und vergiss auch gleich ganz, was du hier gesehen hast. Denn das ist eine lange Geschichte, und für die fehlt dir die Zeit.“
Zeit, die mir fehlte? Verflixt nochmal, so langsam wurde mir dieser Midas und seine Fähigkeit, Gedanken zu lesen, unheimlich. Auch wenn er recht hatte, würde ich mir trotzdem die Zeit nehmen, und wenn es bis zum Abend dauerte.
„Na gut, du hast es so gewollt“, hallte Midas‘ Stimme eine halbe Oktave tiefer durch das Gewölbe. „Aber versprich mir eins: Frag mich nicht nach meinem Vater.“
„Hä? Wieso das denn?“
„Weil ich versprechen musste, seinen Namen nicht mehr zu nennen. Egal wem.“
Ja, waren wir denn hier bei Harry Potter? Doch weiter als bis zu einem verwirrt klingenden Aber kam ich nicht.
„Ich sag nur eins: Heute back ich, morgen brau ich.“
Ja, nee is klar: vor mir saß Rumpelstilzchens Sohn? Nicht dein Ernst, sperrte ich mich gegen das, was mir Midas da gerade auftischte: Durch einen Fehler im Zeugenschutzprogramm hatte er nicht in einer Waldhütte Unterschlupf gefunden, sondern bei Frau Holle? Bei einer Schwindlerin, die seine Gabe, Dinge in Gold zu verwandeln, erkannt hatte und ihren Gefangenen nun zu ihrem eigenen Vorteil auszubeuten? Irgendwann würde die Seifenblase platzen, davon war ich überzeugt. Doch Midas war nicht zu bremsen.
„Ich sag’s dir, der Kerl geht über Leichen. Oder warum hat er mich im ganzen Land suchen lassen, nachdem Malefiz…“
„Stop, jetzt mal ganz langsam und zum Mitschreiben. Rumpelstilzchen ist also dein Vater, der eigentlich nur auf Erfüllung seines Vertrags mit der Königin bestanden hat, damit diese…“
Moment mal, dann war ja die Königin seine Mutter. Die ganze Story erschien mir immer unglaubwürdiger. Und wer zum Henker war Malefiz?
„Ja, was glaubst du denn, was die beiden in der Kammer getrieben haben, während sich das ganze Stroh in Gold verwandelt hat? Mikado gespielt?“
Wer sich bewegt, hat schon verloren? Nein, dieses Kopfkino brauchte ich nun wirklich nicht, doch glücklicherweise ging Midas nicht näher darauf ein. Statt dessen klärte er mich über Malefiz‘ Identität und ihre Rolle in dieser Seifenoper auf.
Drei Tage hatte der Kindsvater seiner Süßen gegeben, um den Schwindel aufzudecken und die Karten offen auf den Tisch zu legen, doch dann war er unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs geworden und hatte das wahre Gesicht des Königs erkannt. Und so hatte das junge Paar innerhalb dreier Tage einen riskanten Plan geschmiedet, bei dem Malefiz ins Spiel kam. Um ihr Unrecht gutzumachen, das sich die 13. Fee damals bei Dornröschen mit dem abgemilderten Todesfluch geleistet hatte, war sie jemandem noch eine gute Tat schuldig gewesen. Und die hatte in der gemeinsamen Flucht Rumpelstilzchens mit seiner Geliebten und dem gemeinsamen Kind bestanden– nach einem spektakulären Abgang.
Ein anderer hätte wahrscheinlich längst dem König den eigenen Spross untergejubelt und sich danach auf Nimmerwiedersehen empfohlen. Aber da kannte Malefiz den Vater des kleinen Midas schlecht! Niemals durfte der Knirps zu einem solchen Monster heranwachsen wie der König eines war. Bedroht die künftige Mutter seiner Kinder mit dem Tod, wenn sie es nicht fertigbrachte, Stroh zu Gold spinnen.
Aber das hatten wir schon. Also spielten sie aller Welt die Komödie mit der verzweifelten Suche nach dem Namen vor, genau wie die Aktion mit dem Zerreißen, übertüncht von einer gewaltigen Rauch- und Glimmerwolke, hinter der Malefiz und Kleinfamilie verschwanden.
Das einzige, was wirklich zerriss, und das auch nur beinahe, waren die Herzen der Kindsmutter und Rumpelstilzchens, als sie von dem kleinen Midas Abschied nehmen und ihn in der Obhut Frau Holles zurücklassen mussten.
A propos Frau Holle. Kam es mir nur so vor, oder hatten Midas und ich die Zeit vergessen? Als ob ein Igor einen unsichtbaren Schalter umgelegt hätte, ging plötzlich ein Ruck durch die feingliedrige Gestalt des jungen Mannes und seine Blicke huschten unruhig umher.
„Ich höre sie kommen“, unterbrach er flüsternd seine Erzählung, wie seine magischen Fähigkeiten ans Licht gekommen waren. „Frau Holle! Du musst hier weg“.
Weg von hier, und ohne ihn? Nach all dem, was ich über Frau Holle soeben erfahren hatte? Nicht nur, dass das viele Gold nicht echt war. Sollte der Schwindel auffliegen, wäre sie wegen Falschmünzerei dran. Außerdem würden sich sich als Schandtaten nun auch noch das Ausnutzen einer Notsituation, Freiheitsberaubung, Kinderarbeit und das Anstiften zu einer Straftat hinzu gesellen. Was jammerte ich da noch über mein ach so schlimmes Schicksal, und das seit Tagen? Hier war jemand, der wie ein Sklave gehalten und wie der letzte Dreck behandelt wurde. Den jungen Midas hier zurücklassen, brachte ich nun wirklich nicht übers Herz.
„Wir müssen fort!“ war das erstbeste, das mir einfiel. Ja, wir mussten fort. Vergessen war das Gold. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.
Fortsetzung folgt …