„Hey Lady, Mark hat mir gesagt, was los ist…“
Aaargh. Lady? Damen sind elegante Erscheinungen und laufen nicht in Jeans und T-Shirt durch die Gegend. Und am allerwenigsten findet man sie in Pubs oder Bars, in denen leger gekleidetes Publikum unterwegs ist. So bezeichnet zu werden, hasste ich wie ins Fadenkreuz zu geraten. Aber gut, dass er jetzt endlich auch Bescheid wusste.
„… kein Wunder, dass es Dir nicht gut geht. Normalerweise soll da Brandy helfen.“
Ich bezweifelte zwar noch immer, dass Alkohol die Lösung schlechthin sein sollte, aber etwas in seiner Stimme ließ mich ihm Glauben schenken… nur ein kleines Schlückchen…
„Mein Gott, Du hast ja eiskalte Hände!“, bemerkte er entsetzt, als sich unsere Finger für einen kurzen Moment berührten. „Du musst ja erbärmlich frieren, so blass wie Du bist.“
Vielen Dank dafür, dass ich jetzt weiß, wie scheiße ich aussehe, dachte ich, während er meine Oberarme umfasste
„Das geht ja gar nicht. Hier, nimm meine Jacke“, und schon hatte er mir seine abgewetzte Lederjacke um die Schultern gelegt. Die war mir mindestens eine Nummer zu groß und noch warm vom Tragen. Besser als die kratzige Decke, die nun nutzlos am Boden lag.
„Danke, das ist echt nett von dir“, brachte ich gerade noch heraus.
„Das ist doch selbstverständlich, nachdem, was du für Steve getan hast…“
Für Steve getan? Ratlos schaute ich ihn an. Steve? Wer war Steve?
„Du hast echt keine Ahnung?“ Woher sollte ich? „Ähm – der, den die Ambulanz mitgenommen hat…“
Anscheinend war ich heute schwer von Begriff, und der Brandy half mir auch nicht auf die Sprünge.
„… der, den Du versucht hast, wiederzubeleben – Steve gehört zu unserer Crew.“
Oh nein, das wurde ja immer schlimmer. Jetzt kannte er den armen Kerl auch noch persönlich. Wie sollte man ihm jetzt beibringen, dass das, was ich angeblich für ihn getan hatte, völlig umsonst gewesen war?
„Hey, was ist los?“
Anscheinend wurde auch ihm das Ganze immer unheimlicher, so wie er mich ansah. Vor allem, weil ich gegen die Tränen, die jetzt kamen, nichts machen konnte. Jetzt bloß nicht heulen!
„Du bist ja völlig fertig.“
Was sollte ich darauf erwidern? Es stimmte ja, aber das war mir jetzt auch kein Trost. Trotzdem versuchte er weiter, mich zu beruhigen, legte einen Arm um meine Schulter und zog mich an sich.
„Hier, nimm noch ’nen Schluck Kaffee.“
Keine Ahnung, wie lange wir da so saßen, aber so langsam bekam ich das Gefühl, dass die Kombination aus Umarmen und Festhalten, heißem Kaffee und der wärmenden Lederjacke dazu beitrug, dass sich meine Anspannung nach und nach löste und irgendwann meine Tränen versiegten.
„Besser?“ – er reichte mir die Papierserviette, die er zusammen mit dem Brandyglas bekommen hatte. „Hier, Taschentücher sind gerade alle.“
Zum Schneuzen musste das reichen. Aber er lag richtig mit seiner Vermutung: Ich fand meine Stimme wieder.
„So, und nun sagst Du mir, was genau los ist. Steve müsste inzwischen im Krankenhaus sein, die werden ihm da schon helfen.“
Ihm helfen? „Und wenn sie ihm nicht mehr helfen konnten?“ erwiderte ich.
Entgeistert starrte er mich an: „Wie kommst Du denn darauf?“
„Na, mir haben sie doch gesagt, ich könne jetzt aufhören, und haben mich von ihm fortgezogen. Was nur eins bedeuten kann…“
„Ja, dass ab jetzt der Rettungsdienst für Steve zuständig ist und sie ihn mitnehmen. Was dachtest Du denn?“
Gute Frage. Was sollte ich darauf antworten? Dass er es nicht geschafft hatte, weil er sich nicht mehr rührte? „Dass er nicht mehr aufgewacht ist…“
„Was, Du hast wirklich geglaubt, er hat es nicht geschafft?“
Schon seltsam, wie wir uns beide um die Formulierung, dass er vielleicht tot sein könnte, herumdrückten. Aber, wo er mich das fragte, dämmerte mir auch gleichzeitig, dass ich vor lauter Panik das Nächstliegende nicht sah, dass meine Hilfe für ihn doch nicht zu spät gekommen war.
„Ganz ruhig; Brian ist mit dem RTW mitgefahren und gibt Mark Bescheid, wenn er Genaueres weiß. So lange müssen wir halt warten.“
Ich wusste, er meinte es nur gut, aber das Warten war das Allerschlimmste. Warten hasste ich wie die Pest, denn in der Vergangenheit hatte ich nur all zu oft warten müssen, und daher wusste ich, wie sehr einen das zermürben kann. Erst der Unfall mit dem Elektrozaun, und jetzt das hier. Schon hatte ich erneut das Brandyglas vor der Nase. Noch mehr Alkohol. Vielleicht hatte er ja wirklich Recht, und es gab doch noch Hoffnung, und vielleicht würde das Zeug, auf Ex getrunken, mich so weit runterfahren und so schläfrig machen, dass sich die Angst einigermaßen in Schach halten ließ. Eines würde es aber vielleicht sogar auf jeden Fall: das Warten erträglicher machen.
Ob die einlullende Kombination aus der Fahrstuhlmusik im Hintergrund und dem Brandy dafür sorgte oder die Tatsache, dass ich nicht alleine herumsitzen musste, sondern mich in Gesellschaft befand… mich beschäftigte ein Gedanke, der sich wie ein Mantra ständig wiederholte: Warten, warten… unser halbes Leben verbringen wir gefühlt mit Warten, aber wenn wir nur immer so genau wüssten, worauf. Manche schreiben sogar Songs darüber: All we can do is sit and wait.
Willkommen im Kabinett der Absurditäten: Auch wenn es bessere Voraussetzungen gibt, um miteinander ins Gespräch zu kommen, aber genau so lernte ich Mike Mitchell kennen. Dass keinem von uns das Warten Spaß machte, lag auf der Hand, aber deswegen mussten wir nicht auch noch vor uns hin schweigen, zumal ich mir unangenehmere Dinge vorstellen konnte, als mit einem Unbekannten ein Gespräch anzufangen – dank des schließlich doch noch wirkenden Brandys und meiner nachlassenden Anspannung eine leicht zu bewerkstelligende Übung. Smalltalk als Ablenkung? Mag sein, dass andere das oberflächlich fanden und von echter Entspannung keine Rede sein konnte, aber ich war mittlerweile fest davon überzeugt, dass niemand die Absicht gehabt hatte, mich betrunken zu machen und die Situation auszunutzen.
Bald waren wir auch schon an dem Punkt, an dem ich meine Work-and-Travel-Zeit noch einmal Revue passieren ließ, wobei ich den Teil mit dem Elektrozaun bewusst aussparte. Mike schien sich zwar dafür zu interessieren, warum es mich in diese Ecke Kanadas verschlagen hatte, aber deswegen musste ich ihm noch lange nicht meine Unfähigkeit auf die Nase binden, dank der ich meinen Job so gründlich vergeigt hatte. Dabei war „electric fencing“ genau mein Spezialgebiet gewesen.
Nach meiner bestandenen Gesellenprüfung zum Elektriker hatte ich etwas von der Welt sehen wollen. Den geografischen und beruflichen Horizont zu erweitern, war genau das, was mir vorschwebte. Warum nicht an einem Work-and-Travel-Programm teilnehmen? Das war mir in dem Moment klargeworden, als ich über den Werbetext einer australischen Firma im Internet gestolpert war: „Hungry, worm-ridden kangaroos in large numbers make a significant dent in feed and water that was originally destined for sheep…“ – was man halt so schreibt, um potentielle Kunden von den Vorzügen seiner elektrischen Zäune zu überzeugen, aber musste es unbedingt Australien sein, wo jeder hinwollte? Warum nicht Kanada? Den amerikanischen Kontinent hatte ich schon immer faszinierend gefunden…
„Rrrrring!“ – wie ich diesen antiquierten Klingelton, der immer noch in war, und das auch noch weltweit, hasste! Aber andererseits war das vielleicht der Anruf, auf den Mark so dringend wartete. Wie elektrisiert – um bei dem Bild zu bleiben- starrten Mike und ich ihn an, und es dauerte eine Weile, bis der Groschen fiel. Ja, es war der erlösende Anruf. Und ja, Steve hatte den Anfall einigermaßen überstanden, musste aber zu weiteren Untersuchungen im Krankenhaus bleiben. Das Herz. Mit so einem Anfall war nicht zu spaßen. Arbeiten würde er erst einmal bis auf weiteres vergessen können. Schwere Werkzeugtaschen zu schleppen, fiel für ihn über einen längeren Zeitraum hinweg flach.
„Mehrere Wochen?“ – Mark war sichtlich „not amused“, genau so wie die beiden anderen, die inzwischen auf der Bildfläche aufgetaucht waren und nun ebenfalls betreten aus der Wäsche schauten: Schon blöd, wenn das unentbehrliche Crewmitglied, das für die Elektrik zuständig war, plötzlich von jetzt auf gleich wegen eines Herzinfarkts ausfiel. Crewmitglied. Ich verstand immer nur ‚Crewmitglied‘, was für mich gleichbedeutend mit Bahnhof war.
Ich hatte keine Ahnung, um was für eine seltsame Truppe es sich bei dieser Zufallsbekanntschaft handelte. Hoffentlich gehörten Mark, Danny, Ryan und Mike zu keinem Motorradclub, denn auf die kanadische Version von „Sons of Anarchy“ so kurz vor meinem Abflug hatte ich nicht die geringste Lust. Da konnte Mike noch so charmant und zuvorkommend sein, aber das war mein persönliches Knockout-Kriterium schlechthin. Manche Pechsträhnen waren wohl generell nur in XXL zu haben, niemals dagegen in XS, denn dann hätte man sie ja mit einem Schulterzucken abtun können.
So, wie ich die Lage einschätzte, hatte ich den passenden Zeitpunkt für den Absprung kurz vor der Talfahrt ohne absehbares Ende schon lange verpasst. Und dank meines nicht funktionierenden Totstellreflexes hatte ich auch nicht mitbekommen, wie lange man mich schon anstarrte, ähnlich Schlangen, die ihre Beute ins Visier nehmen… „Du hast wirklich keine Ahnung?!…“
Keine Ahnung? Wovon? Oh ja, dass ich keinen Plan hatte, wie es jetzt für mich ohne Geld weitergehen sollte, war zwar offensichtlich, aber wohl nicht das, was Mark meinte. Mehr zuhören, weniger grübeln, das war wohl das, was ich unbedingt noch auf meine To-Do-Liste setzen musste.
„Du weißt aber schon, dass Du was bei uns gut hast,“ wiederholte Mark und sah mich inzwischen schon leicht genervt an.
Ja, ich wusste, er hielt mich nicht für die hellste Kerze auf der Torte, aber zum Glück wäre ich in ein paar Tagen schon auf dem Rückweg in mein altes Leben, was spielte es da schon für eine Rolle, was er von mir dachte?
„Schließlich hast Du Steve das Leben gerettet.“
Wahrscheinlich hatte er das schon mal zu mir gesagt, aber da ich nun selbst schon glaubte, dass ich heute extrem lange zum Denken brauchte, war die Bedeutung seiner Worte bisher noch nicht zu mir durchgedrungen. Dass ich etwas bei ihnen gut hatte? Mir wollte partout nichts einfallen, womit er und seine Kollegen sich bei mir revanchieren konnte. Außerdem mochte ich es gar nicht, wenn irgendwer bei irgendwem in irgendeiner dubiosen Schuld stand.
„Wenn ihr mir ein Taxi spendieren könntet, damit ich…“
Damit schien nun aber wiederum Mike nicht einverstanden zu sein. Nach meinem Einsatz heute Abend als alleinigen Dank nur ein popeliges Taxi zu bestellen, sollte schon alles gewesen sein? Da ging doch bestimmt noch mehr.
„Was besseres fällt Dir nicht ein?!“
Ich wusste wirklich nicht, warum er sich so anstellte – schließlich war es doch das Einfachste für alle Beteiligten, wenn man mich meiner Wege gehen ließ. Reichte es nicht, wenn man sich bei mir bedankte und es damit gut sein ließ? Wenn es nach Mike ging, eher nicht, denn mit dem, was er jetzt seinen Kollegen vorschlug, hatte niemand gerechnet, und am allerwenigsten ich.
„Ich weiß, mein Vorschlag kommt jetzt überraschend“, fing er an und nahm Marks Smartphone an sich, bevor der in hektischen Aktionismus und wildes Herumtelefonieren verfallen konnte, „aber ich glaube, wir können uns die Suche nach einem Temp sparen.“
Mark, Danny und Ryan schauten genauso ratlos aus der Wäsche wie ich, aber im Gegensatz zu mir, machte es bei ihnen schneller Klick. Mit vorübergehendem Ersatz meinte er jemanden, der Steves Job übernehmen konnte, solange der außer Gefecht war. Das konnte doch unmöglich wahr sein: ein Jobangebot für mich, weil sie zwar niemanden für das Reparieren von Elektrozäunen suchten, aber für elektrisches Gefrickel jeglicher Art? All things electric – your chance of a lifetime? Im Prinzip schon, nur hätte ich gerne gewusst, was auf mich zukommen würde, wenn ich das Angebot annahm.
„Ob du auf ’ner Farm oder auf Baustellen gearbeitet hast, macht doch keinen Unterschied. Wenn ich Dich richtig verstanden habe, ist Dein Visum doch noch gar nicht abgelaufen, oder?“
Das stimmte zwar, denn nüchtern betrachtet, hätte ich meine Zelte nicht vorzeitig abbrechen müssen; ich hatte mich aus rein privaten Gründen dafür entschieden, jetzt schon nach Hause zu fliegen und nicht erst in drei Monaten.
„Und außerdem: Was hast Du denn schon groß zu verlieren?“ Guter Punkt. Zu verlieren hatte ich tatsächlich nichts. „Im Gegensatz zu uns…“
Im Gegensatz zu Euch? Jetzt hätte ich schon gerne gewusst, was er damit meinte. Anscheinend lief ihm und seinen Leuten die Zeit davon, aber warum bloß? Wenn Du nicht bald mit der Sprache herausrückst, dachte ich, dann…
„Okay, okay“, schaltete sich Danny ein, „da Du ja“ – er wandte sich an mich – „übrigens, wie heißt Du eigentlich?“
„Andie“
„Okay, Andie – da Du ja nicht weißt, was los ist, also schön: Steve ist für alles Elektrische zuständig…“
Ja, das war auch das Einzige, was ich bisher verstanden hattte.
„… und sollte eigentlich mit uns ab Freitag auf Tournee gehen.“
Wie jetzt? Mit Euch in fünf Tagen auf Tournee gehen? Jetzt verscheißert Ihr mich aber, indem ihr mir erzählen wollt, Ihr seid ’ne Band mit dringendem Personalbedarf? Und dass Ihr selbständig und in Eigenregie Jobs vergeben könnt und dazu kein Management braucht?
Entweder war das hier eine kleine, unbekannte Band, die alles selbst entscheiden durfte, oder sie waren so berühmt, dass das Management ihnen freie Hand ließ. Zu dumm, dass ich mich mit der kanadischen Musikszene so überhaupt nicht auskannte und mir als einzige Band aus Vancouver neben Nickelback und Conjure One nur noch Orchards & Vines einfiel.
„Falls Du Danny nicht glaubst, sieh Dir ruhig die Plakate im Eingangsbereich an.“
Ryan, der bisher auch noch nichts gesagt, sondern sich lieber an seinem Bier festgehalten hatte, gab jetzt auch noch seinen Senf dazu. Na super – wie viele von denen versuchten denn noch, mich zu überreden? Garantiert hatte Mike mir vorhin davon erzählt, aber ich hatte blöderweise davon nichts mitbekommen; jedenfalls stand das Match bislang vier zu eins – mit ungewissem Ausgang. Das war das Stichwort. Ryan hatte zwar vom Eingangsbereich gesprochen, der auch zugleich als Ausgangsbereich diente, aber da die besagten Plakate auch an der Wand gegenüber klebten, musste ich nicht mal aufstehen.
„OxyGen“ – nie gehört. Aber das war auch nicht weiter verwunderlich, denn mein Wissen über das, was gerade angesagt war, hielt sich doch stark in Grenzen – und der Name dieser Band lag jenseits davon. OxyGen – Sauerstoff… Wie kam man bloß auf so einen Namen? War einer von denen vielleicht ein Bewunderer von Jean-Michel Jarre? Das Plakat also: Offensichtlich inspiriert von der Elemententafel aus dem Chemieunterricht – mich erinnerte es eher an das Logo der Serie „Breaking Bad“.
Schön, sie hatten heute ihren Auftritt gehabt, wollten danach nur noch etwas trinken und waren in dieser Bar gelandet. Dass es ihren Elektrospezialisten ebenfalls hierher verschlagen hatte, konnte man als Zufall sehen oder auch nicht. Für das Ergebnis spielte das keine Rolle. Na, das hatte mir gerade noch gefehlt. Die Herren waren zwar keine Mitglieder eines Motorradclubs, aber gehörten zu einer Band, die aus insgesamt sechs Leuten bestand: Zwei Gitarristen, einem Bassisten, einem Schlagzeuger, einem Mann am Keyboard und einem Sänger. Wer hier wohl wer war? Auch das hätte ich sicherlich erfahren, wenn ich Mike besser zugehört hätte. Aber die Frage war sowieso überflüssig, wenn ich das ach so verlockende Angebot ausschlug. Am liebsten hätte ich eine Nacht darüber geschlafen, aber angesichts meiner misslichen Lage, hatte ich keine Ahnung, ob mir noch so viel Zeit bleiben würde.
„Du musst dich nicht sofort entscheiden.“
Na, das wollte ich doch stark hoffen, auch wenn in fünf Tagen die große Tournee durch Kanada starten sollte, und zwar durch Pubs, Bars und kleinere Hallen: Vancouver, Edmonton, Calgary, Montréal, Halifax – nein, nicht in diesen großen Städten, das wäre der absolute Traum gewesen. Schon allein die 3000 Kilometer zwischen Calgary und Montréal machten dies unmöglich, wenn ihnen nur ein begrenzter Zeitrahmen von zwei bis drei Monaten und ein noch begrenzteres Budget zur Verfügung stand. Nein, die Reise sollte sie quer durch British Columbia führen, die Küste rauf und runter, immer in kleinere Städte, denn dort waren die Übernachtungen günstiger. Zum Schluss sollte es dann noch nach Calgary gehen und über Edmonton wieder zurück nach Vancouver. Die Strecken fein aufgeteilt in kleinere Etappen.
Da bekam „Work & Travel“ doch gleich eine ganz andere Bedeutung. Jetzt aber genauer darüber nachzudenken, machte mir Mike jedoch unmöglich, denn während seine Kollegen noch über seinen Vorschlag diskutierten, zog er mich vom Sofa hoch und stellte fest, dass man diesen grandiosen Einfall und meinen heroischen Einsatz genauso gut feiern konnte, anstatt dumm auf dem Sofa herumzusitzen. Wo nahm der Mann nur die Energie her?
„Tequila on my friends, it makes them flirty“, schallte es aus den Boxen quer durch den Saal.
Wie passend, dachte ich – wenn’s ums Feiern geht, war Pink nicht die schlechteste Wahl; jedenfalls besser als die ewig einfallslose Beschallung mit Avicii oder David Guetta. Oder mit dem, was die meisten DJs üblicherweise so auflegten. Dieser hier schien jedoch eine Vorliebe für rocklastige Popmusik, größtenteils aus den 80er Jahren zu haben. Einige Stücke aus den 90ern waren auch dabei. Oh, eine Damenrunde! Der nächste Track kam von Garbage: „Stupid Girl“ – Spitzenidee! Wenn das mal keine Anspielung auf meinen momentanen Geisteszustand war! Aber mir war alles recht, so lange der DJ schnellere Stücke nahtlos ineinander übergehen ließ und nicht auf die Idee kam, „etwas Romantisches für alle Verliebten unter uns“ zu spielen. Solche vermeintlich originellen Einfälle fielen für mich in die Kategorie „unüberbietbare Peinlichkeiten“ und führten in der Regel dazu, dass ich beim leisesten Anflug einer Ballade den gepflegten Rückzug antrat.
Zwar bestand hier diese Gefahr nicht, denn an Garbage schloss sich übergangslos Zola Jesus mit „Seekir“ an. Doch dann versuchte der DJ, mit einem uralten Hit von INXS zu punkten: „To look at you… and never speak… is so good… for me.. tonight…“ Was hatte er sich bloß dabei gedacht, diesen Oldie von 1982 zu spielen? Ein Musikwunsch? Da hielt sich wohl jemand für den absoluten Partyexperten, und mehr Achtziger ging bei diesem Sound nun wirklich nicht. Ja, ich fand die Band auch ganz toll, aber bei dem Text musste ich wieder an die Würgeschlange denken, die ihre Beute nicht mehr aus den Augen lässt und auf den passenden Moment zum Zuschnappen wartet – ein Bild, das ich an diesem Abend schon einmal vor Augen gehabt und das mir schon beim ersten Mal nicht gefallen hatte. Big Brother is watching you…
Wenn jetzt noch das ultimative Lied für Stalker… Bingo. Natürlich hätte ich es wissen müssen. Der DJ war nun endgültig im Eighties-Wahn angekommen und fuhr das volle Programm auf, ohne Rücksicht auf Verluste, denn sonst wäre seine Wahl nicht auf „Every breath you take“ gefallen. Wie ich diesen Song hasste. Erstens verstanden die meisten den Text völlig falsch und zweitens fiel er in die Kategorie, bei der ich mir fest vorgenommen hatte, dass ich verschwinden würde, falls der Plattenaufleger romantische Anwandlungen bekommen würde. Was man an diesem totgedudelten Hit romantisch finden konnte, würde mir wohl für immer ein Rätsel bleiben. Auf jeden Fall aber reichte es mir, und ich signalisierte Mike, dass ich erst mal eine Auszeit an der frischen Luft brauchte. Und nach Möglichkeit bitte alleine, wenn’s ging. Meine Gedanken zu sortieren, fiel mir ohne Ablenkung leichter.