Kapitel 4 : The apple came down
Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief: „Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.“ Sie antwortete aber: „Du kommst mir recht, es könnte mir einer auf den Kopf fallen,“ und ging damit weiter. Als sie vor der Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen Zähnen schon gehört hatte, und verdingte sich gleich zu ihr.
„… und da habe ich sie aus dem Ofen gezogen“, hallten Maries Worte in mir nach. Worte, mit denen sie beschrieben hatte, wie es panisch aus dem Ofen „zieh mich raus, sonst verbrenn ich“ geschallt hatte: Gebäck in allen Varianten, alles außer Pizza, doch zum Glück war mein Schwesterherz an Ort und Stelle gewesen, um es an der frischen Luft abkühlen zu lassen. Das nenne ich mal perfektes Timing! Zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein, wie schön für sie… aber was hatte ich? Die Arschkarte!
Anstatt das Backwerk zu retten, konnte ich nur noch den Ruß zusammenkratzen. Pluspunkte würde mir das bestimmt nicht einbringen, na schönen Dank auch. Aber wie hätte ich auch wissen können, dass sich der Weg so lange hinziehen würde und ich außerdem gezwungen war, mit Tempos MacGyver zu spielen? Ohne diese Verzögerung hätte ich es bestimmt rechtzeitig geschafft…
Ach, mach dir doch nichts vor! meldete sich meine innere Stimme. Auch ohne das ganze Gedöns hättest du die Pizza verbrennen lassen. Du hättest nämlich wieder dieses Lied im Kopf gehabt und diesen einen verflixten Nachmittag vor dir gesehen.
Ashes to Ashes? Oh bitte nicht, hielt ich in Gedanken dagegen, denn ich wusste ganz genau, worauf diese nervige Stimme anspielte: Den Tag, an dem es bei uns zu Hause eskaliert war.

Dass sich Papa und Muttern stritten, war ja nichts neues, doch ums „liebe Geld“ hatte sich ihre letzte Auseinandersetzung an jenem Tag nicht gedreht, jedenfalls nicht nur darum. Wo bei anderen Paaren unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf das Finanzielle für ausgewachsene Krisen sorgten, hatte Papa etwas ganz anderes umgetrieben.
Während im Ofen die Pizza verführerisch schmurgelte, war Muttern ein „Liebe geht durch den Magen“ entschlüpft, eine gedankenlose Bemerkung von der Sorte, die Papa schon länger gegen den Strich ging. Engstirnigkeit gepaart mit einem begrenzten Maß an Intelligenz und Empathie. Der geistige Horizont ist der Abstand zwischen Hirn und Brett? Ein Umstand, den er anfangs wissentlich ignoriert hatte, denn was tut man nicht alles aus Liebe. Doch mit den Jahren war die Kluft zwischen den beiden immer tiefer geworden. Immer häufiger hatte er bei dem, was sie den lieben langen Tag lang so von sich gab, die Ohren auf Durchzug gestellt, doch irgendwann war das Maß voll. Denn leider hatte ihr Geplapper an jenem Tag darin gegipfelt, dass sich der Mann, der Marie eines Tages zur Frau bekommen würde, glücklich schätzen konnte.
Und alles nur, weil sich mein Schwesterherz beim Backen mal wieder selbst übertroffen hatte, während ich…
Da war Papa der Kragen geplatzt.
„Ja, spinn‘ ich denn?“ war er so aus der Haut gefahren, dass ich vor Schreck die Ofenklappe zufallen ließ und mir die Hand an ihrem heißen Rahmen verbrannte.
„Der Mann, der Marie eines Tages zur Frau bekommen wird? Ich fass‘ es nicht!“
So hatte ich ihn noch nie erlebt.
„Was glaubst du wohl, warum mir eine breitgefächerte Bildung und verschiedene Fähigkeiten bei den Mädchen so wichtig sind?“
Ja, warum wohl? Schon immer hatte ich mich gefragt, wozu das viele Lernen gut war. Vielleicht, damit ich später nicht alles selber tun musste, sondern die schweren und unangenehmen Tätigkeiten an andere delegieren konnte? Das aber sahen unsere Eltern komplett anders. Schlimmer noch: An dieser Frage schieden sich die Geister der beiden. Zwar waren sich beide in dem Punkt einig, dass es nicht schaden konnte, wenn Marie und ich wussten, wie sich wirkliche Arbeit anfühlte. Doch bei dem eigentlichen Zweck dahinter gingen ihre Meinungen stark auseinander.
Team „Mona Lisas Lächeln“ gegen Team „Die Frauen von Stepford“: Wo Papa uns früh genug das nötige Rüstzeug mitgeben wollte, damit wir später auf unseren eigenen Füßen stehen konnte, träumte Muttern davon, dass wir ganz traditionell heiraten würden. Familiengründung inbegriffen.
„Die idealen Ehefrauen? Geht’s noch? Und was machst du, wenn sich niemals auch nur ein geeigneter Heiratskandidat einstellt oder Marie und Resina lieber Single bleiben wollen?“
Oder sich vielleicht aus Männern auch gar nichts erst machen, fügte ich in Gedanken hinzu, hielt aber meinen Mund und drückte mich ängstlich in eine Ecke, weil die Fetzen nun erst so richtig flogen. Verbal gaben sich beide nichts, so viel stand fest. Verstört hatte ich mir mit pochenden Händen die Ohren zugehalten, doch ab und zu war doch der ein oder andere Fetzen zu mir durchgedrungen.
Wenn dem Mann andere Qualitäten wichtiger sind… Oder der Mann vorher stirbt und die Frau alleine dasteht, so ohne Beruf… Oder oder oder… Oder ganz abhaut!
Oder ganz abhaut? Da war mir schlecht geworden, denn das hatte gar nicht mehr nach dem dämlichen Spruch „wenn das Wörtchen wenn nicht wär“ geklungen, sondern nach bitterer Realität. Papa wollte uns verlassen? Nein, das durfte nicht sein! Aber mein stummes Flehen war nicht erhört worden, und so hatte ich fassungslos mit ansehen müssen, wie er seine sieben Sachen packte und die Tür hinter sich ins Schloss knallte, während Muttern käseweiß und unter Tränen auf ihrem Stuhl zusammengesackt war.
Die Pizza im Ofen war dabei schwärzer und schwärzer geworden.
Wenig später hatten wir Gewissheit: Mit dem Eintreffen des Briefs von seinem Anwalt, in dem von Scheidung die Rede war, hatten wir die Hoffnung, dass er zu uns zurückkehren würde, für immer begraben. Einzig die monatlichen Zuwendungen für Marie und mich, nicht mehr als ein Tröpfchen auf den heißen Stein, waren das einzige Zeichen dafür, dass er noch existierte. Nur wo er geblieben war, wusste kein Mensch zu sagen.

Schniefend fegte ich die letzten Reste von dem, was einst Gebäck gewesen war, zusammen und kippte sie in den nächsten Bach, der die schwarzen Brocken mit sich trug. Dann sah ich mich um. Frau Holles Bäckerofen hatte ich ja nun leider viel zu spät gefunden, doch wenn ich mich ranhielt, konnte ich es noch zur nächsten Station schaffen. Doch wohin des Wegs? Eine Orientierungshilfe, egal wie klein, wäre jetzt nützlich gewesen, und tatsächlich erspähte ich zwischen den sich lichtenden Rauchschwaden einen hölzernen Wegweiser mit drei Richtungspfeilen daran.
Zur Apfelwiese… Zum Wolfswald… Nach Zwergenhausen
Das war ja einfach! Kaum hatte ich den Gedanken laut ausgesprochen, erschien vor mir wie aus dem Nichts ein Weg aus roten Steinen. Nicht aus gelben? Ach ja, ich vergaß: Ich wollte ja nicht zur Smaragdstadt, sondern zur Alten vom wandernden Wolkenkuckucksheim, besser bekannt als Frau Holle. Maries Ausführungen nach konnte es nicht mehr weit sein. Aber das hatte sie ja auch über den Weg zum Backofen gesagt, aber da ich es mit dem Motto „im Zweifel für den Angeklagten“ hielt, versuchte ich, optimistisch zu bleiben. Vielleicht geschahen ja wirklich noch Zeichen und Wunder.
Und wenn es nur mir vor die Füße kullerndes Fallobst war.